# taz.de -- Die Kunst der Woche: Die Migration der Form | |
> Ein frischer Anlauf auf das Werk von Ruth Wolf-Rehfeldt, José | |
> Montealegres postkolonialer Blick auf Pflanzen und Ellen Akimotos Genuß | |
> an der Malerei. | |
Bild: Aus der Pflanzenkunde übersetzt: José Montealegre, „página 0299“, … | |
„FAR BACK MUST GO WHO WANTS TO DO A BIG JUMP“ ist auf dem weißen Blatt | |
Papier von rechts nach links und gleichzeitig mit jedem Wort einen | |
Absatzsprung von oben nach unten zu lesen. Das Blatt gehört zur | |
„Wörter-Serie“ von Mitte der 1970er Jahre. Eine richtige Feststellung als | |
subtilen visuellen Witz formulieren, das konnte Ruth Wolf-Rehfeldt (*1932 | |
in Wurzen) mit ihrer „Erika“. Die kompakte Reiseschreibmaschine aus | |
VEB-Produktion war für Wolf-Rehfeldt, was für andere Kreative der Pinsel | |
oder der Stift ist. Mit den 49 Tasten der Schreibmaschine konnte sie | |
angefangen von konkreter Poesie bis hin zur geometrischen Abstraktion alles | |
auf dem Papier darstellen, was sie wollte. | |
Das ist nun erneut in Potsdam zu sehen, wo im [1][Minsk] mit „Nichts | |
Neues?“ eine große Einzelausstellung eröffnet hat, kurz nachdem ihre | |
Ausstellung anlässlich der Verleihung des Hannah-Höch-Preises 2022 im | |
Kupferstichkabinett am Kulturforum in Berlin endete. Gerade wer die | |
Berliner Ausstellung gesehen hat, sollte sich die in Potsdam nicht entgehen | |
lassen. Denn tatsächlich nimmt man im Minsk noch einmal frischen Anlauf und | |
kann erneut einen spannenden Überblick über das Werk die Künstlerin | |
präsentieren. | |
Man geht weit zurück, für den großen Sprung und beginnt mit ihren | |
starkfarbigen Gemälden aus den 1960er und 1970er Jahre. Damit wurde sie | |
Mitglied im Verband der Bildenden Künstler und erhielt so Zugang zu | |
Arbeitsmaterial und Druckwerkstätten. Etwa zu Wolfgang Arnoldi in | |
Müggelheim oder der Druckerei Graetz in der Auguststraße, die Ende der | |
1970er Jahre viele ihrer „Typewritings“ in Form von Zinkografien | |
reproduzierten. Zunächst handelte es sich bei ihren ab 1972 geschaffenen | |
Typo-Bildern um Originale. Deren Vervielfältigung war freilich dann | |
Voraussetzung, um in der internationalen Mail-Art Szene aktiv zu werden, zu | |
der [2][Ruth Wolf-Rehfeldt über ihren Mann] Anschluss gefunden hatte. Als | |
Kunstpostbriefe reisten ihr ebenso konzeptuell wie poetisch starken | |
Typewritings, die die politisch wache Künstlerin nicht verbargen, dann in | |
alle Welt. | |
Der Sprung führt in die 1980er Jahre, wo sie ihre größte künstlerische | |
Produktivität entfaltete und schließlich, nach dem Fall der Mauer, ihre | |
künstlerische Arbeit ganz einstellte. Die 1980er Jahre finden sich in der | |
eigens angefertigten Tapete, vor der die in schmale Holzleisten gefassten | |
Blätter hängen: jede Wand weist ein anderes Muster auf, die sich ihrer | |
elektrischen Kugelkopf-Maschine verdanken, mit der sie in diesen Jahren | |
arbeitete. Das Geschenk von Robert Rehfeldt wies ein sehr viel größeres | |
Repertoire an Schrifttypen auf als die Erikas, was sich Wolf–Rehfeldt für | |
jene subtilen Zeichenerfindungen nutzte, die nun die Wand zieren. | |
Es empfiehlt sich übrigens das Smartphone in die Ausstellung mitzunehmen. | |
Gar nicht, um unbedingt zu fotografieren, vielmehr hilft die Zoomfunktion | |
der Kamera ungemein, ohne den Arbeiten zu nahe zu treten und den Alarm | |
auszulösen, die zarten und kleinen Zeichen zu erkennen oder auch die | |
Begriffe und Sätze der oft nur Postkarten großen Kunstwerke zu entziffern. | |
Was nötig ist, weil die Typewritings oft stark auf dem Zusammenspiel von | |
Wort und Bild aufbauen. So zeigt sich etwa ein Briefumschlag von hinten | |
durch die Anordnung der Wörter FROM während die Vorderseite des Umschlags | |
mit Briefmarken, Adressfeld und Absender durch das Wort TO gebildet werden. | |
Weil Ruth Wolf–Rehfeldt mit Beginn der 1990er Jahre nicht mehr künstlerisch | |
tätig war, geriet sie, die schon während ihrer produktivsten Jahre einem | |
eher kleinen, allerdings sehr feinen und sehr internationalen Kreis von | |
Künstlerinnen und Kennern bekannt war, in Vergessenheit. Aber 2017 gelang | |
ihr mit ihrer Teilnahme an der dokumenta 14 noch einmal ein großer Sprung | |
zum Ruhm. Wolf-Rehfeldt, die ihre Familie tatsächlich mit der | |
Schreibmaschine, als Sekretärin in der Akademie der Künste, ernährt hatte | |
und an ihre Kunst erst abends, nach getaner Arbeit denken konnte, wird nun | |
international ausgestellt, wie viele Plakate am Ende der Schau | |
dokumentieren. | |
## In der Kreislaufwirtschaft | |
Im imposanten Eckraum der [3][Galerie Schulte], mit seinen riesigen | |
Fensterflächen und seiner enormen Höhe, in dem sonst eine Bildhauerin wie | |
Franka Hörnschemeyer schwere Stahlgitter hochtürmt, erfreut jetzt ein | |
kleines Blumenrondell den Blick. Obwohl recht zierlich beherrschtes fraglos | |
den Raum. Die Pflanzen in ihren Töpfen sind zwar in Erde gepflanzt, selbst | |
aber aus Kupfer. Auf dem weiß gekachelten Fußboden sieht man Fußspuren. | |
Dadurch ermuntert, traut man sich in den Raum. Aber der Weg zur großen | |
Wandarbeit mit ihrem blau-schwarzen Rastermuster aus Plexiglas ist eine | |
wackelige Angelegenheit. Die Kacheln sind nur lose auf dem Boden gelegt, | |
also bewegen sie sich, klackern leise und rutschen weg. Ja, die | |
Installation des Künstlers José Montealegre (*1992 in Tegucigalpa, | |
Honduras) ist bezaubernd und von überraschender Lebendigkeit. | |
Worum geht es bei dem Pflanzenarrangement, das im Nebenraum in einer Art | |
Gewächshaus steckt? Und den metallenen Notizbüchern, die in beiden Räumen | |
auf verschiedenartig gemusterten Kachelwänden aufgebracht sind und deren | |
aufgeschlagene Seiten analog zu gepressten Blumen Schnitte von älteren, vom | |
Künstler gefertigten Pflanzen zeigen? Der Text zur Ausstellung sagt, die | |
Pflanzenskulpturen sind auf Illustrationen im Buch „Nova Plantarum | |
Animalium et Mineralium Mexicananorum historiae“ des spanischen | |
Naturforschers Fancisco Hernández zurückzuführen. | |
Die Spanier haben auch die Muster der Kacheln nach Südamerika importiert, | |
die Montealegre in seinen Wandarbeiten zeigt. Die Installation ist als | |
postkoloniale Erzählung verstehen, die Ausbeutung nicht verschweigt – die | |
Pflanzen des Nova Plantarum mussten Einheimische zeichnen – ihren Fokus | |
aber anders legt. Nämlich auf jenem Prozess, den die documenta 12 als | |
Migration der Form zu ihrem Motto machte und den José Montealegre | |
„Narrativas Circulares“ nennt. Sammeln, dokumentieren, überschreiben, | |
verwerfen, rekonstruieren, recherchieren, wieder hervor holen, recyceln: | |
mit dieser Kreislaufwirtschaft der Kunst setzt er sich in seiner ersten | |
Galerieausstellung auseinander. | |
## Die sichtliche Lust am Malen | |
Ein Arm oder ein Bein scheint gerne mal etwas später im Raum anzukommen als | |
der Körper selbst, mit dem er – unter der These, das Auseinanderfallen sei | |
zeitlich bedingt – noch nicht verbunden ist. Die inkohärenten Körper sind | |
das eine, das auffällt bei den Gemälden von Ellen Akimoto, die erstmals | |
unter dem Titel „My Eyes See Only What’s Not in Front of Me“ in der | |
[4][Galerie Judin] ausstellt. | |
Das andere ist ihre sichtliche Lust am Malen. Sie zeigt sich in der Freude | |
an der Farbe und wie Akimoto sie kombiniert, etwa wenn sie wie in „The | |
Other Room“ das schrille Pink eines abstrakten modernistischen Rasters, das | |
freilich auch als Regal gelesen werden kann, mit dem dunklen Grün der | |
darauf befindlichen Zimmerpflanze konfrontiert. Oder wenn sie giftgrüne | |
Arme vor ein sehr rosarotes Gesicht setzt wie in „Curious Onslaught“. | |
Die Freude am Malen zeigt sich auch darin, wie sie die Stilmittel | |
vorangegangener Kunstbewegungen kombiniert, etwa wenn sie in „Mountain | |
Interior/Waning Gibbons“ die verzerrte Perspektive des Expressionismus im | |
großen Fenster zeigt, in dem sich ein Gebirge auftürmt, während sie das | |
Paar vor dem Fenster mit neusachlicher Genauigkeit und Distanziertheit | |
betrachtet und der Wand im Hintergrund eine feine und entsprechend fein | |
gemalte Jugendstiltapete samt passender Topfpflanze gibt. Da kommt einiger | |
Witz ins Spiel, bei Akimotos Spiel mit den Möglichkeiten der Malerei. | |
Großartig der gelbe transparente Comic-Glibber im Maschendrahtzaun vor dem | |
hälftig in blau und Abendstimmungsrot geteilten Hintergrund. Wenn es sich | |
um den Blick aufs Meer handelt, wie der Bildtitel „Talking about Our | |
Feelings by the Sea“ vorschlägt, kommt man nach der Berlinale und Steven | |
Spielbergs „The Fabelmans“ natürlich nicht umhin John Ford zu zitieren, der | |
strikt davon abrät, den Horizont in die Mitte zu legen. Aber das Bild lässt | |
sich auch einfach als Abstraktion lesen. | |
Trotz ihrer Faszination für die Ölfarbe und deren Materialität auf der | |
Leinwand sind auch der Computer und Photoshop mit im Spiel. Denn hat die | |
1988 in Westlake Village, Kalifornien, geborene Künstlerin eine Idee für | |
ein Bild, entwickelt sie mit Hilfe von Archivmaterial, oft Fotos von sich | |
selbst, eine Art digitales Storyboard. Auf diesen vielschichtigen Collagen | |
baut dann das Gemälde auf, das sich während des Malprozesses freilich noch | |
eigenständig fortentwickelt. Mit diesem aufwändigen Produktionsprozess | |
könnten sich die nachhinkenden und manchmal auch mehrfach vorhandenen | |
Extremitäten erklären. Vielleicht aber auch einfach mit der Lust am | |
verfremdenden Effekt. | |
4 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://dasminsk.de/ausstellungen/2208/ruth_wolf_rehfeldt_nichts_neues | |
[2] /Archiv-Suche/!5711619&s=Ruth+Wolf+Rehfeldt&SuchRahmen=Print/ | |
[3] https://www.galeriethomasschulte.com/exhibitions/71-narrativas-circulares-j… | |
[4] https://www.galeriejudin.com/2023-ellen-akimoto-my-eyes-see-only-whats-not-… | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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