| # taz.de -- Die Kunst der Woche: Fantastische Straße | |
| > Hendrik Krawen verzweigt Straßen und Buchstaben bei Kewenig. „Drängende | |
| > Gegenwart“ beim European Month of Photography zeigt überlegte Fotografie. | |
| Bild: Quirin Staufer, „Motorabdeckung“ (2018), aus der Serie „Other Europ… | |
| Wer etwas Schönes anzubieten hat, der findet nach Corona- und inmitten von | |
| Internet- und Onlinehandelszeiten in Charlottenburg doch einige | |
| leerstehende, schmale Ladenlokale, bestens dazu geeignet, das Angebot | |
| höchst attraktiv zum Verkauf zu stellen. Die [1][Galerie Kewenig] hat sich | |
| eines der vielen leerstehenden, Ladenlokale in Charlottenburg als | |
| „pied-à-terre“ gesichert. | |
| In den schmalen Räumlichkeiten kommt nun Hendrik Krawens Ausstellung „À | |
| vendre“ attraktiv zum Erscheinen. Der Titel der Schau bezieht sich auf das | |
| im Schaufenster hängende Schild, mit dem einst der Verkauf einer Immobilie | |
| angezeigt wurde. Das in der Wallonie gefundene Schild inszeniert Krawen als | |
| objet trouvé, das mit seiner Typografie und der zeitlosen Aktualität des | |
| Themas vom urbanen Werben und Annoncieren auch aus seiner Hand stammen | |
| könnte. | |
| Auf Schönste vereinen sich Typografie und Stadt, die – wie wir Dank der | |
| Street Photography wissen – immer schon ein zweieiiges Zwillingspaar waren, | |
| im Großformat „Imaginary Places III“ (2023). Auf der Grundlage von | |
| Anzeigenseiten chinesischer Zeitungen, bei denen es sich in der Mehrzahl um | |
| Immobilienanzeigen handelt, collagiert Krawen mit blauen Papierstreifen | |
| eine Straßenkarte mit einem Hell-Dunkel-Platz, auf den die Fantastische | |
| Straße mündet. Der Stempeldruck, der zuerst als Friedrichstraße gelesen | |
| wurde, heißt tatsächlich aber Friedliche Straße. In dieser Stadt möchte ich | |
| leben. | |
| Wie immer arbeitet Hendrik Krawen mit größter Genauigkeit, setzt hier das | |
| Straßennetz und dort, etwa in „kurz vor Nacht“ (2012), das | |
| Architekturdetail und die Schrift in minutiöser Sorgfalt auf den Malgrund. | |
| Er selbst sagt, sein Vorgehen habe etwas von Zeichnen mit dem Pinsel. Ich | |
| würde „kurz vor Nacht“ in Los Angeles lokalisieren, aufgrund des rostigen | |
| backsteinbraunen Simses der Dachkante, auf dem das Neonzeichen „Eden“ | |
| thront. In das monochrome Hellbraun des Himmels muss sich neben dem gelben | |
| Riss noch ein Tick Rosa eingemischt haben, denn der Eindruck eines noch | |
| frühen zwar, aber doch schon Abendlichts ist nicht zu leugnen. | |
| Aber was genau definiere ich als Abendlicht? Wie sehe ich die Welt kurz vor | |
| der Nacht? Krawens Kunst fordert in ihrer asketischen Präzision diese | |
| Reflexionen heraus, denn sie zeigt keine konkrete Wirklichkeit, so sehr sie | |
| mit fotografischem Dokumentarismus kokettiert. Spannend, wie ich auf | |
| „789436 Vers. III“ (1999/2022) meinen ganz eigenen Reim finden muss, auf | |
| die Buchstaben, wie sie durch den Bildraum fliegen, sich drehen, verhaken; | |
| und darauf, dass sie auf mich altmodisch, aber auch sehr französisch | |
| wirken, warum auch immer. | |
| ## Schulen der Fotografie | |
| Vielleicht ist es für die Fotografie von Vorteil, dass es die klassische | |
| Fotoreportage und die entsprechenden Magazine, wie wir sie noch aus den | |
| 1970er und 1980er Jahren kennen, nicht mehr gibt. So viel Pathos, so viele | |
| arme Opfer, denen endlich eine Stimme verliehen wird; gut gemeint, aber | |
| viel zu paternalistisch. Junge Fotografinnen sehen sich heute jedenfalls | |
| herausgefordert, einigen Einfallsreichtum zu entwickeln, um den Anliegen | |
| derjenigen, die nicht für sich selbst sprechen können, mit dem Medium der | |
| Fotografie Ausdruck zu geben. | |
| Wie es etwa Phuong Hoang von der University of Europe for Applied Science | |
| zeigt, die den Kindesmissbrauch als langanhaltendes Problem der | |
| vietnamesischen Gesellschaft in den Fokus nimmt. Eine komplexe | |
| Rauminstallation liefert den Rahmen für die Präsentation von Bildern, | |
| Objekten, Texten und Videos, in denen ihre Recherche zu den Geschichten | |
| misshandelter Babys und Kleinkinder zusammenkommt, wie sie in den | |
| vietnamesischen Medien in den letzten 17 Jahren berichtet wurden. Statt | |
| Mitleid will die junge Fotografin Bereitschaft zum Handeln provozieren und | |
| ganz konkret zur Gewaltprävention in den Gemeinden beitragen. | |
| „Baby’s-Breath“ ist einer von insgesamt 28 durchweg sehenswerten Beiträg… | |
| zu „Drängende Gegenwart“, einer im Rahmen des European Month of Photography | |
| entwickelten Gemeinschaftsausstellung von Absolventen der fotografischen | |
| Ausbildungseinrichtungen in Berlin und Potsdam. | |
| Neben dem Lette Verein, der Fachhochschule Potsdam, der University of | |
| Europe for Applied Sciences, der Hochschule für Wirtschaft und Technik HTW | |
| Berlin, der International Photography School Berlin und der Ostkreuzschule | |
| für Fotografie ist als Gast auch die Schule für künstlerische Photographie | |
| Friedl Kubelka aus Wien vertreten. | |
| Wie der Titel „Drängende Gegenwart“ schon andeutet, beschäftigen sich die | |
| jungen Fotografen und Fotografinnen mit den gegenwärtig sich häufenden | |
| Krisen, sei es der Krieg in der Ukraine, Covid und weitere anhaltende | |
| Pandemien, die Klimaerwärmung oder die Attacken auf demokratische | |
| Regelwerke und Institutionen. | |
| Sowohl fotografisch als auch thematisch zeigt „Drängende Gegenwart“ | |
| durchweg interessante und sehenswerte, bisweilen wirklich herausragende | |
| Beiträge. Und dabei ist auch manches zufällig entstandene, kongeniale | |
| Zusammenspiel zu entdecken. Etwa Michael Langes fotografische Untersuchung | |
| „Sand. The Transformation of Berlin“ und Lourens Samuels „Sand“. | |
| Während der Absolvent der International Photography School den Sand in den | |
| Berliner Baugruben aufspürt, in der kurzen Zeit des frei liegenden | |
| Bauplatzes, nach dem Aushub oder dem Abriss und vor dem Neubau, | |
| interessiert sich der Absolvent des Lette Vereins für die knappe Ressource | |
| Sand. Eine Wandtapete zeigt den Burj Khalifa, den in den Sand Dubais | |
| eingelassenen höchsten Wolkenkratzer der Welt, der aus importiertem | |
| australischem Sand gebaut wurde, wobei der Stahl, der den Beton verstärkt, | |
| zum Teil aus dem abgerissenen Berliner Palast der Republik stammt. | |
| 14 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://kewenig.com/exhibitions/hendrik-krawen-a-vendre-piedaterre | |
| ## AUTOREN | |
| Brigitte Werneburg | |
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