# taz.de -- Soziale Bewegungen in Berlin: Die Qual der Wahl | |
> Für außerparlementarische Bewegungen findet Demokratie vor allem jenseits | |
> der Wahlen statt. Auf die Stimmabgabe sollte man dennoch nicht | |
> verzichten. | |
Bild: Schlimmeres zu verhindern ist der wichtigste Grund wählen zu gehen | |
Es gehört zum guten Ton unter radikalen Linken, sich nicht besonders für | |
Wahlen zu interessieren. „Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie | |
verboten“, fasst das wahlweise Mark Twain, Kurt Tucholsky oder Emma Goldman | |
zugeschriebene Zitat die linke Skepsis gegenüber Wahlen auf den Punkt. | |
Tatsächlich wurde der neoliberale Ausverkauf der Stadt in den letzten | |
Jahrzehnten von allen Parteien in unterschiedlichen Koalitionen erstaunlich | |
konsequent fortgeführt. [1][Hausprojekte wurden geräumt, landeseigene | |
Flächen verscherbelt und Investor:innen hofiert.] Diese Politik alle | |
fünf Jahre mit seiner eigenen Stimme zu legitimieren, fühlt sich für viele | |
verständlicherweise nicht nach politischem Empowerment an. | |
Auch die für Sonntag angesetzte Wahlwiederholung dürfte nicht dazu | |
beigetragen haben, die Begeisterung für die parlamentarische Demokratie | |
wiederzuentzünden. Dennoch sprechen einige Gründe dafür, am Sonntag wählen | |
zu gehen. | |
Betrachtet man die politische Entwicklung in Berlin in den vergangenen | |
Jahren, so fällt auf, dass [2][langsam eine Abkehr vom neoliberalen | |
Ausverkauf hin zu einer gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung | |
stattfindet]. Vorangetrieben wird diese Entwicklung vor allem von Berlins | |
starken sozialen Bewegungen, die immer effektiver Politik jenseits der | |
Wahlen mitgestalten. | |
Besonders durch Volksentscheide konnten einige der visionärsten politische | |
Projekte der Stadt auf den Weg gebracht werden. Der Volksentscheid Fahrrad | |
hat die Verkehrswende in Gesetzesform gegossen, Deutsche Wohnen und Co | |
enteignen bietet als einziger politischer Akteur einen realistischen | |
Ansatz, der Mietenkrise zu begegnen, und Berlin 2030 Klimaneutral ist auf | |
dem Weg, die Politik dazu zu bringen, ernsthaften Klimaschutz zu betreiben. | |
## Offen für Veränderung | |
Da trotz aller linker Folklore keine Revolution in Sicht ist, heißt es jede | |
Chance für politischen Wandel zu nutzen, die da ist. Und da gehören Wahlen | |
dazu. So macht es schon einen Unterschied, ob Kandidat:innen und | |
Parteien im Amt sind, die Volksentscheide umsetzen wollen und sich auch | |
sonst gegenüber Forderungen der Bewegung offen zeigen. | |
Der Forderung nach einem sozialgerechten und klimaneutralen Umbau Berlins | |
will das Bündnis [3][#BerlinWillKlima] am Freitag vor der Wahl mit einem | |
Klimastreik Nachdruck verleihen. Beteiligt sind nicht nur Fridays for | |
Future, sondern auch [4][DW enteignen], die Bürgerinitiative A100 stoppen | |
und der Volksentscheid Berlin 2030 Klimaneutral (Freitag. 10. Februar, 12 | |
Uhr, Rotes Rathaus). | |
Auch die erst vor wenigen Wochen stattgefundene Räumung Lützeraths dürfte | |
maßgeblich dazu beigetragen haben, das Vertrauen vieler | |
Klimaaktivist:innen in die Parteienpolitik zu erschüttern. | |
Schließlich wurden die Apologeten der Räumung nicht müde zu erwähnen, dass | |
die Entscheidung, Lützerath abzubaggern und Klimaaktivist:innen | |
krankenhausreif knüppeln zu lassen, das Ergebnis einwandfreier | |
demokratischer Entscheidungsprozesse war. Wie es nach Lützerath mit der | |
Klimabewegung weitergeht, soll bei einer [5][Podiumsveranstaltung] mit | |
Vertretern von Ende Gelände und dem BUND diskutiert werden (Mittwoch, 8. | |
Februar, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1). | |
Während Lützerath dem Erdboden gleichgemacht ist, steht den | |
Waldbesetzer:innen von „Heibo Bleibt“ im sächsischen Würschnitz die | |
Räumung noch bevor. Sie wollen die Erweiterung einer Kiesgrube verhindern, | |
deren Rodung die empfindlichen Moore in der Umgebung bedroht. Gerüchten | |
zufolge soll wohl schon am Mittwoch geräumt werden, deswegen gibt es am | |
Dienstagabend eine gemeinsame Busanreise aus Berlin (Dienstag, 7. Februar, | |
18 Uhr, Oranienplatz. [6][Anmeldung hier)]. | |
Am Ende stellt sich die Frage: Wenn nicht parlamentarische Demokratie, was | |
dann? Ökodiktatur oder Stalinismus? Wieso nicht mal etwas mehr | |
Basisdemokratie wagen, auf lokaler Ebene in selbstverwalteten | |
Kiezversammlungen? Da Konsens-Entscheidungsfindungen geübt sein wollen, | |
kann man sich am Sonntag vor oder nach der Wahl schonmal in der | |
[7][Kiezversammlung 44] im Neuköllner Jugendklub Manege üben. Alle zwei | |
Wochen wird dort nach gemeinsamen Antworten auf die grassierende | |
Verdrängung im Kiez gesucht (Sonntag, 12. Februar, 12 Uhr Rütlistraße 1–3). | |
7 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Linke-Hausprojekte-in-Berlin/!5894992 | |
[2] /Alternativen-zum-Kapitalismus/!5882607 | |
[3] https://fridaysforfuture.berlin/ | |
[4] /Wohnungspolitik-in-Berlin/!5913459 | |
[5] https://www.nd-aktuell.de/termine/89429.html | |
[6] https://kurzelinks.de/pefr | |
[7] http://www.kiezversammlung44.de/ | |
## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
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