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# taz.de -- Politik in Krisenzeiten: Besser mal zögern
> Unter Zeitdruck werden selten kluge politische Entscheidungen getroffen.
> Eine Verteidigung eines in Ungnade gefallenen Politikstils.
Bild: Seine Züge gut abzuwägen ist nicht dasselbe, wie nichts zu tun
In der Pandemie, bei der Frage der Panzerlieferungen und darüber hinaus:
Beständig heißt es in den öffentlichen Debatten in Deutschland, dass nicht
gezögert werden darf. Schon in der Pandemie war der Tenor stets, man müsse
unverzüglich und entschlossen handeln. Verkennend, dass Pandemiepolitik auf
eine Verzögerung der Ausbreitung des Virus ausgelegt war, um die
Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht zu überlasten. Verkennend damit
auch, dass pandemischen Lagen nicht mehr, wie in Pestepidemien der
Vergangenheit, primär durch räumliche Eingrenzung, sondern vor allem
zeitlich begegnet wird.
Hieran erinnert nicht nur Albert Camus’ Pandemie-Bestseller Die Pest,
sondern auch die lange, ungeachtet ihrer Konsequenzen praktizierte
Pandemiepolitik Chinas. Die räumliche Isolation von Viren wird von den
Gegebenheiten einer global vernetzten Welt eben rasch überholt. Flatten the
Curve, ein auf Zeit spielendes Vorgehen wird in einer solchen Welt zum
Mittel der Wahl.
Abermals begegnet uns die [1][Ablehnung des Zögerns] in der Debatte über
den von Wladimir Putin vom Zaun gebrochenen Angriffskrieg Russlands gegen
die Ukraine. Erneut heißt es, dass nicht gezögert werden darf, weil es eine
sträfliche Unterlassung sei, nicht ohne Verzug auf die Ereignisse zu
reagieren. Und erneut wird die Bedeutung einer Politik des Zögerns
verkannt. Wird das komplexe Feld politischer Entscheidungsfindung zwischen
multiplen Verantwortungsbereichen, einer keineswegs im Konsens geeinten
Öffentlichkeit, der Bewegung in und der Absprache mit der Staatenwelt
sowie dem Umgang mit einer Atommacht, simplifiziert auf ein Gebot zur
Entscheidung.
Gewiss, Politik ist an Entscheidung und aus dieser resultierenden Aktivität
ausgerichtet. Während Philosophie die Welt interpretiert, habe Politik sie
zu verändern. Die von Politik zu beantwortende Frage laute daher: Was tun?
Indes bemisst dieses Aktivitätsparadigma die Frist zur Antwort immer
knapper. Knapp wird die Frist zur Antwort durch die Tilgung Gottes aus der
Gleichung, blickt man auf die longue durée, die lange Dauer also,
historischer Prozesse. Es wartet nicht mehr die Erlösung im Jenseits,
erwartet wird, dass der an die Stelle des Weltenrichters getretene,
richtende Staat für Gerechtigkeit im Diesseits sorgt. Befürchtet wird eine
diesseitige, säkulare Apokalypse, sofern der Staat nicht handelt und sofern
die Enttäuschung über das Ausbleiben seines Handelns schließlich
überhandnimmt.
Knapp wird die Frist zu einer Antwort somit auch durch die Erwartungen der
Öffentlichkeit sowie der berichtenden Medien. Das Aktivitätsparadigma
produziert also Ereignishunger und daraus folgend einen Wettbewerb in der
von Aufmerksamkeit lebenden Medienökonomie. Über eine noch nicht getroffene
Entscheidung lässt sich schwer berichten, stellt sie doch kein Ereignis
dar. Wenig berichtenswert ist das zögerliche Abwägen einer Entscheidung
besonders dann, wenn es im eher verborgen bleibenden Bereich der Politik
geschieht: in den Außenseitern verschlossenen Hinter- und
Besprechungszimmern, den Telefon- und Videokonferenzen.
Als der Entscheidung vorgelagerter Abwägungsprozess steht das Zögern also
dem Paradigma der Aktivität und dem Ereignishunger entgegen. Es ist dem
Aktivität und Ereignis erwartenden Beobachter damit meist ebenso schwer
verständlich wie erträglich. Die mit einer Politik des Zögerns verbundenen
Vorzüge geraten so aus dem Blick. Doch erst durch das Zögern wird bewusstes
Entscheiden möglich, das alternative Handlungswege voneinander scheidet,
statt Pfadabhängigkeiten zu folgen und bloßes Reagieren in der Logik
gegebener Strukturen als Entscheiden auszuweisen.
Zur Entscheidung gehört Unvorhersehbarkeit. Was bereits determiniert ist,
ist nicht mehr zu entscheiden. Die Versicherungen diverser
Verunsicherungsmakler, eine zu treffende Entscheidung sei alternativlos,
ist schon deshalb falsch, weil zum einen die Alternative des Unterlassens
immer zur Verfügung steht (ob die Folgekosten des Unterlassens bezahlt
werden können, ist damit zwar nicht beurteilt und gilt es in Betracht zu
ziehen, ehe entschieden wird). Zum anderen wird von solchen
Verunsicherungsmaklern damit lediglich zum Ausdruck gebracht, dass zu
entscheiden sei, wie sie es wünschen. Sie bieten keine Optionen für alle
Fälle, sondern allein für die von ihnen als legitim erachteten Fälle.
Zögern wird damit zu einem Instrument der Ermächtigung, zum Ausdruck von
Souveränität. Souverän ist, wer zu zögern vermag. Wer dem Zeitdiktat
anderer unterworfen ist, ist nicht Herr seiner Zeit, hat die ihm gegebenen
Fristen zu befolgen und lässt sich in eine Beschleunigungsspirale treiben.
Entscheiden gleicht dann der Fahrt durch eine Helix – bei der nur in eine
Richtung gelenkt werden kann, man auf Sicht fährt, da die vorangegangenen
und erst recht die folgenden Wendungen im Sichtfeld noch nicht
beziehungsweise nicht mehr auftauchen.
Der eingeschlagene Weg steht nicht mehr infrage. Was nicht erfragt und zu
beantworten ist, kann zügig weiterverfolgt werden. Eine solche Politik ist
verantwortungslos. Wer nicht weiß, was hinter der nächsten Kurve auf ihn
wartet, nimmt das Risiko in Kauf, einem Hindernis nicht mehr ausweichen
oder rechtzeitig bremsen zu können. Es bleibt dann nur zu hoffen, dass die
Kollision nicht im Totalschaden endet.
Dagegen kann eine Politik des Zögerns der Vergewisserung dienen, sich noch
auf der richtigen Spur zu befinden. Ebenso kann sie das Weiter-so
durchbrechen, indem Herkommen, Fahrtrichtung und Ziel wieder erkannt
werden. Sie begegnet damit dem Strategiedefizit einer am
Aktivitätsparadigma ausgerichteten Politik.
Als strategieaffinere Form von Politik, die nicht die berechenbare
Fortführung des immer schon so Gemachten ist, sondern nach dem Sinn und
Zweck einer Entscheidung fragt, ist die Politik des Zögerns aber auf ihren
Hinterzimmerbereich angewiesen. Bedingungslose Transparenz steht
strategischem Handeln und Entscheiden entgegen. Eine am Zögern
ausgerichtete Politik hat ihr Blatt bedeckt zu halten. Gerade deshalb ist
die Kommunikation politischen Zögerns diffizil und dennoch erforderlich: um
Vertrauen zu gewinnen; um Entscheidungen als bewusste Willensakte
wahrnehmbar zu machen.
Nur dann bleibt sie nicht erratisch und der Prozess der
Entscheidungsfindung nachempfindbar. Dem Wirtschaftsminister gelang es
zeitweilig besser, seine Entscheidungen im Ringen um die Unabhängigkeit von
russischem Gas zu erklären, als es dem zögernden Kanzler in seiner
Ukrainepolitik gelingt.
Während eine Politik des Zögerns Vertrauen gewinnen muss, wird einer
Politik der Aktivität ein Vertrauensvorschuss gewährt, da sie der Erwartung
nach schneller Handlung und dem Ereignishunger vorerst gerecht wird.
Paradoxerweise läuft sie jedoch Gefahr, das ihr gewährte Vertrauen bald
wieder zu verspielen, sofern sie ihrem Stil treu bleibt und der ihr
inhärente Konflikt zwischen Aktivitätsparadigma und Strategiedefizit
eskaliert. Eine Politik des Zögerns dagegen sträubt sich gegen die
Eskalation. Nüchternheit jenseits der Erregung der Aufmerksamkeitsökonomie
prägt sie.
Das nüchterne Abwägen wird durch die Verzögerung möglich und zum Ausdruck
politischer Klugheit, sodass noch immer der Satz Senecas gilt: „Das größte
Gegenmittel gegen den Zorn ist der Aufschub.“ Denn unter Stress und
Zeitdruck, übernächtigt oder von Emotionen diktiert werden selten
politische Entscheidungen getroffen, die den Test der Zeit überdauern.
Diese erfordern zeitaufwändige Abstimmung und Kompromisse.
Eine Politik des Zögerns bewegt sich daher doch, sie ist kein Stillstand,
ist nicht mit Passivität zu verwechseln oder als solche zu verschmähen.
Aber damit sie gelingen kann, benötigt sie eine nüchterne Erwartungshaltung
aller Beteiligten. Zu Zögern muss man sich leisten können. Mithin hat eine
Politik des Zögerns ihre eigenen Voraussetzungen zu erzeugen. Politik hat
abzuwägen, welche Abhängigkeiten perspektivisch einzugehen sind, um sich
dem Zeitdiktat anderer nicht zu unterwerfen. Eine Politik des Zögerns hat
überdies soziale Politik zu sein, auch die Bürger müssen sie sich
buchstäblich leisten können. Wenn Krisen existenzbedrohende Formen
annehmen, ist aufschiebendes Vorgehen kaum noch vermittel- und vertretbar.
Zögernde haben die Balance zu halten zwischen den an die Politik
gerichteten Erwartungen der Öffentlichkeit und der Medien und der
Erfordernis, das Arkanum – also jenen Hinterzimmerbereich der Politik – zu
wahren und vor allem zu erkennen, wann der Moment zum Handeln gekommen ist.
Den Kriterien einer Politik des Zögerns genügt die öffentliche Debatte in
Deutschland über Waffenlieferungen an die Ukraine nicht. Sie lässt sich
bereitwillig vom tagespolitischen Ereignishunger treiben. In Etappen wird
über die Lieferung diverser Waffen diskutiert. Diskutiert wird, ob [2][die
Äußerung der Außenministerin], „wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“,
eine Kriegserklärung gewesen sei. Diskutiert wird über Ereignisse der
Tagespolitik.
Geführt werden Platzhalterdebatten. Sie nehmen den Platz ein, der durch den
in Ungnade gefallenen Stil zögernder Politik, von Debatten [3][über die
Ziele von Politik] zu ersetzen ist. Darüber zu diskutieren, worin diese
bestehen, verlangt einen Schritt zurückzutreten. Von der Erregung des
Augenblicks abzulassen, um sich nicht dem Aktivitätsparadigma gemäß vom
tagespolitischen Geschehen treiben zu lassen.
15 Feb 2023
## LINKS
[1] /Zoegerliche-Waffenlieferung/!5907354
[2] /Annalena-Baerbock-und-der-Ukraine-Krieg/!5911609
[3] /Selenskis-Besuch-in-Grossbritannien/!5911094
## AUTOREN
Benjamin Schmid
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