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# taz.de -- Monografie „Viewshed“ über Larissa Fassler: Die soziale Maschi…
> Die Künstlerin Larissa Fassler entwirft ausufernde Modelle von urbanen
> Konfliktzonen. Die Monografie „Viewshed“ gibt einen Überblick.
Bild: Larissa Fassler, „Gare du Nord III“, 2014–2015 (Ausschnitt)
Der Gare du Nord verbindet Paris mit Europa und ist unterirdisch ein Tor
für die Metro in die nördlichen Pariser Vorstädte. Die Künstlerin Larissa
Fassler hat dessen stetig wuchernde Tentakel aus Schleusen und Rolltreppen,
Bahnsteigen und Fußgängerbrücken maßstabsgerecht nachgebaut.
Sie drückte sich dafür drei Monate nahezu jeden Tag und oft mehrere Stunden
lang in den Gängen und Hallen des Bahnhofs herum und entwickelte aus
Hunderten von handgezeichneten Skizzen und Notaten zudem fünf große Bilder.
Dabei musste sie immer wieder den Standort wechseln, das Wachpersonal
verscheucht alle, die mehr wollen, als nur durchzueilen.
Der Gare du Nord, Transitzone für täglich 700.000 Menschen und Europas
größter Bahnhof, ist „eine soziale Maschine, die sortiert, separiert,
kontrolliert und befiehlt“, schreiben Chris Blache und Pascale Lapalud in
der jüngst erschienenen Monografie zu Fassler.
Jenes von Videokameras und Wachschützern ausgeleuchtete Panoptikum spiegelt
sich auch in der labyrinthischen Untergrundstadt Les Halles, dem zweiten
zentralen Ankunftsort der Pariser Vorstadtzüge. Ihm widmete Fassler weitere
Modellarbeiten aus bedrucktem und genutztem Pappkarton.
## Umkämpfte Orte
Die umfangreiche Monografie „Viewshed“ versammelt Arbeiten Fasslers der
letzten fünfzehn Jahre. Immer zeichnet die Englisch sprechende Kanadierin,
die seit 1999 in Berlin lebt, umkämpfte und öffentliche Orte auf: in Paris,
New York, Berlin, auch den [1][Taksim-Platz in Istanbul]. Mithilfe von
Werkzeugen aus der visuellen Anthropologie und Stadtplanung entwickelt die
Künstlerin über Monate hinweg großformatige Mixed-Media-Gemälde,
ausgreifende Modell-Skulpturen und detailversessene Computergrafiken.
Darauf kondensiert sie die räumlichen und zeitlichen Ebenen, bleibt zudem
lückenhaft oder übermalt Stellen, Vorheriges wird in Spuren sichtbar.
Ihre großformatig gedruckten Arbeiten im Buch sind ein „reichhaltiges
Palimpsest, das dicht geschichtete Zonen städtischer Aktivität aus
Strukturpaste, Farbgrundierungen, nassem und trockenem Grafit, sorgfältig
dargestellten Gebäudegrundrissen und nachgezeichneten Grenzen, fast
unsichtbaren Bleistiftstrichen und triefender Farbe entstehen lässt“,
schreibt Karen E. Till.
Für ihre Langzeitstudien schaut und hört Fassler den Orten zu. Stimmen am
[2][Kreuzberger Verkehrsknotenpunkt Kottbusser Tor] notiert sie als Palaver
oder chorisches Sprechen. Protestbanner, Werbelogos, Zeitungsüberschriften
oder das Marketing, mit denen Projektentwickler wie [3][Pandion einen
blankneuen Gewerbebau mit „The Shelf“ umwerben], brennen neue Namen in die
Stadt. Preisschilder wie auf Immo-Seiten oder bei Airbnb markieren den
Ausverkauf.
Ihre aus dem Architekturentwurf kommenden axonometrischen Zeichnungen
nehmen Überwachungstechniken wie die Drohnenperspektive oder eine
maßstabsgerechte Darstellung auf. Gemeinsam mit den aufgezeichneten
Geräuschen, Gerüchen, Temperaturen sowie Farben demonstriert Fassler einen
widersprüchlichen Gebrauch der Räume.
Als kritische Dokumentaristin verfasste sie ein Zeugnis von Kreuzberg 36
zwischen Kotti und Moritzplatz: Kämpfe gegen Stadtautobahn oder
Flächensanierung, gegen Abschiebung oder [4][Deutsche Wohnen & Co.] lassen
sich durch eingelagerte alte Stadtplanungen oder aktivistische Logos noch
ablesen, nachdem die Kettenläden und Offshore-Fonds schon vieles begraben
haben.
Ihre Zeichnung vom „Civic. Centre“ im US-amerikanischen Manchester ist nur
dem Namen nach den Bewohner:innen der Stadt zugewandt. In diesen
„Verwundungszuständen“, wie Wendy Brown die urbanen Situationen in Fasslers
Arbeiten nennt, hält der öffentliche Raum die Gesellschaft nicht zusammen.
„Viewshed“ (übersetzbar mit „Ansichtsfenster“ oder „Sichtbereich“)…
sich nicht einfach gemein mit den umkämpften Orten. Dank seiner vielen
Perspektiven von weiblichen Autorinnen und Texten auf Französisch, Englisch
und Deutsch führt das Buch die eigene Geschichte dieser städtischen Räume
neu vor. Von denen, die von außen hinzukamen.
1 Feb 2023
## LINKS
[1] /Frauendemos-in-der-Tuerkei-verhindert/!5895157
[2] /Drogenszene-am-Kottbusser-Tor/!5907956
[3] /Zwischennutzung-in-Berlin-Kreuzberg/!5531316
[4] /Kipping-ueber-Berlin-und-die-Linke/!5910197
## AUTOREN
Jochen Becker
## TAGS
Kunst
Urbanität
Architektur
Zeichnung
Expo
Ausstellung
Jüdisches Museum Berlin
Subkultur
Architektur
AKW-Rückbau
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