| # taz.de -- Tierwelt der Zukunft: Die Zebrahirsche kommen | |
| > Was passiert mit der Tierwelt, wenn die Menschen ausgestorben sind? Ein | |
| > Evolutionsforscher hat mit der taz fünf Tiere der Zukunft entwickelt. | |
| Die Erderwärmung wird nicht nur unser Leben radikal verändern, sondern auch | |
| das der Tierwelt. Viele Tiere werden aussterben. Doch manchen Arten könnte | |
| es gelingen, sich mit den Änderungen zu arrangieren und [1][zu neuen Arten | |
| weiterzuentwickeln]. Zusammen mit dem Paläontologen Philipe Havlik hat die | |
| wochentaz fünf Tiere entwickelt, die durch die veränderten | |
| Lebensbedingungen dort, wo heute Deutschland liegt, entstehen könnten. | |
| Philipe Havlik ist Doktorand am Institut für angewandte Geowissenschaften | |
| an der Universität in Darmstadt und außerdem leitender Kurator des | |
| Senckenberg Naturmuseums Frankfurt am Main. Als Urzeitforscher erforscht er | |
| die Entwicklung des Lebens über einen Zeitraum von Millionen von Jahren | |
| unter dem Einfluss verschiedener Klimaveränderungen. Er weiß deswegen, | |
| [2][wie evolutionäre Veränderung funktioniert]. | |
| Dieses Wissen haben wir auf ein mögliches Zukunftsszenario angewendet: Der | |
| Weltklimarat geht davon aus, dass sich die Erde im schlimmsten Fall bis zum | |
| Jahr 2100 um 5 Grad Celsius oder mehr erwärmen könnte. Auf dieser Grundlage | |
| gehen wir bei unserem Szenario von einer Welt aus, in der die menschliche | |
| Spezies nicht überlebt hat, wohl aber fünf Tierarten, die sich mit [3][den | |
| wärmeren Temperaturen] und dem steigenden Meeresspiegel arrangiert haben. | |
| Wie genau sich die Tiere unter diesen veränderten Umweltbedingungen | |
| entwickeln könnten, darüber gibt die bisherige Evolutionsgeschichte | |
| Aufschluss. Evolution braucht vor allem eins: Zeit. Wie viel, ist nicht | |
| vorhersagbar. Bis sich bestimmte Merkmale einer Spezies bei allen | |
| Nachfahren durchgesetzt haben, kann es Hunderte Generationen dauern. | |
| Zentral ist dabei der Begriff der „natürlichen Auslese“, bei der also vor | |
| allem jene Tiere einer Generation überleben, die am besten geeignet sind, | |
| in einer veränderten Umwelt zu überleben. Dabei spielen viele Faktoren eine | |
| Rolle, zum Beispiel wie stark die Temperaturen schwanken, wie oft es regnet | |
| oder die Anzahl der Nachkommen pro Generation. Unsere Liliput-Schweine | |
| könnten schon in wenigen Tausend Jahren entstehen, sobald der Meeresspiegel | |
| steigt und Norddeutschland im Meer versinkt. Unser Krokodil dagegen braucht | |
| eine deutlich höhere Durchschnittstemperatur, um in Nordeuropa zu | |
| überleben, und kann sich deshalb erst spät entwickeln. | |
| Kommen Sie mit uns in ein Gedankenexperiment, bei dem wir das Gelernte aus | |
| der Vergangenheit mit der Zukunft verbinden. Aber Achtung! Passen Sie auf, | |
| wo Sie hintreten. Denn unser Sumpfkrokodil hat noch nie Menschenfleisch | |
| gekostet! | |
| ## Der Zebrahirsch | |
| Im heutigen Brandenburg erstreckt sich in ferner Zukunft eine weite | |
| Savannenlandschaft. In diesem Biotop lebt ein mächtiger Geweihträger: der | |
| Zebrahirsch (Cervus zebrae). Anders als sein Vorfahre, der Rothirsch, hat | |
| sein Fell ein Streifenmuster. Zwischen den hohen Grashalmen und dem | |
| Flimmern der heißen Luft der Savanne eine überlebenswichtige Tarnung. Denn | |
| große Beutegreifer wie der afrikanische Löwe sind über den asiatischen | |
| Landweg zurück nach Europa gekommen. Neben dem Camouflagemuster hat der | |
| Zebrahirsch eine gefährliche Defensivwaffe: Sein Geweih ist deutlich größer | |
| als das seiner Vorfahren, da er sich nicht mehr im dicht bewachsenen Wald | |
| zwischen Bäumen bewegen muss. | |
| Biologischer Hintergrund: Die verschiedenen Arten der Gattung Equus, der | |
| Pferde, haben je nach Lebensraum eine andere Fellfarbe. Während asiatische | |
| und europäische Pferde keine Streifenmuster entwickelten, haben | |
| afrikanische Pferde, die in Graslandschaften mit großen Raubtieren leben, | |
| eine solche Tarnung. Die Augen der Raubtiere können die Streifen nicht von | |
| der Savanne unterscheiden. Zu der Gattung Pferde gehören auch die Zebras. | |
| Zudem schützen die Streifen vor dem Biss der Tsetsefliege, die mit ihren | |
| Facettenaugen die Zebras schlecht erkennen kann. Diese Fliege könnte auch | |
| nach Deutschland kommen, wenn es dramatisch wärmer wird. In der Gegenwart | |
| leben keine Hirsche in der afrikanischen Savanne. Der einzige Vertreter der | |
| Gattung Cervus in Afrika ist der vom Aussterben bedrohte Berberhirsch in | |
| Nordafrika. Falls sich der Lebensraum der Wald- und Steppenbewohner jedoch | |
| radikal verändert, wäre es ein evolutionär logischer Schritt, | |
| Streifenmuster auszubilden. | |
| Blick in die Vergangenheit: Dass sich mit neuen klimatischen Bedingungen | |
| das Fell der Tiere verändert, gab es auch schon dort, wo heute Deutschland | |
| ist: Während der letzten Warmzeit, der sogenannten Eem, lebten | |
| Steppenelefanten mit dünner kurzer Behaarung bei uns. Als dann vor 115.000 | |
| Jahren die vorerst letzte Kaltzeit begann, setzten sich die wolligen | |
| Mammuts durch. Die wiederum starben in Deutschland aus, als es wieder | |
| wärmer wurde, weil sie dauerhafte Erkältungen hatten, da ihr zotteliges | |
| Fell ständig durchnässt war. Erst im 19. Jahrhundert von uns Menschen | |
| ausgerottet wurde das Quagga aus Südafrika. Kopf, Hals und Rücken des | |
| Pferdes hatten Zebrastreifen, der Rest des Körpers war einfarbig. | |
| ## Das friesische Liliput-Schwein | |
| Wegen des gestiegenen Meeresspiegels sind weite Teile von Norddeutschland | |
| überflutet. Dort, wo früher Schleswig-Holstein war, befinden sich nun | |
| kleine Inseln, auf denen verwilderte Schweine leben. Sie stammen von | |
| Hausschweinen und norddeutschen Zuchtschweinen ab, die sich mit Wildtieren | |
| gepaart haben. | |
| Vom Aussehen her ähneln sie ihren Vorfahren. Doch in einem wesentlichen | |
| Merkmal unterscheiden sie sich: der Größe. Die Liliput-Schweine (Sus | |
| pumilio var. frisiensis) sind nur 40 cm lang und 30 cm hoch. In kleinen | |
| Gruppen streifen sie über die Inseln. Die Monokultur der Bauern, die dort | |
| einst wohnten, ist zu einem Mischfeld geworden: Mais, Hafer, Dinkel und | |
| Weizen wachsen wild auf den Inselwiesen. Ein Schlaraffenland für die | |
| Allesfresser. Die Schweine vermissen die menschlichen Besitzer ihrer | |
| Vorfahren nicht. Mit ihnen sind die gefährlichsten Fressfeinde | |
| verschwunden. Nur Sumpfkrokodile, die sich an die Küsten der Inseln vom | |
| Festland verirren, können ihnen nun noch gefährlich werden. | |
| Biologischer Hintergrund: Dass Schweine geniale Überlebenskünstler sind, | |
| dafür gibt es zahlreiche Beispiele: Verwilderte Hausschweine leben seit | |
| Generationen in der Karibik, auf Korsika oder Indonesien. Aber warum ist | |
| unser friesisches Liliput-Schwein so klein? Das biologische Prinzip, dem | |
| diese Entwicklung folgt, heißt Verzwergung. Die evolutionäre Besonderheit, | |
| die auch Nanosomie genannt wird, beschreibt die Anpassung an einen neuen | |
| Lebensraum durch die Verkleinerung des Körpers. Ursächlich dafür ist eine | |
| Verkleinerung des Biotops und ein beschränktes Futterangebot. Dies | |
| geschieht durch jahrhundertelange Isolation, weswegen die Verzwergung | |
| besonders auf Inseln zu beobachten ist. | |
| Blick in die Vergangenheit: Europa war in der Kreidezeit eine tropische | |
| Insellandschaft. Im vergangenen Jahr entdeckten Forscher im heutigen | |
| Transsilvanien das Skelett eines Zwergdinos, den sie Transylvanosaurus | |
| tauften. Ein weiteres Beispiel: Der sizilianische Zwergelefant, der nur | |
| knapp 90 Zentimeter Schulterhöhe erreichte. Es besteht die Annahme, dass | |
| europäische Waldelefanten auf die Mittelmeerinsel über eine Landbrücke | |
| kamen. Als der Meeresspiegel wieder stieg, waren die Tiere abgeschnitten | |
| vom Festland und verzwergten. | |
| ## Das Heuschreckenhörnchen | |
| Wo sich früher der deutsche Wald erstreckte, hat sich die Landschaft | |
| radikal verändert. Auch in Bayern: Der ehemals Bayerische Wald ist Tausende | |
| Jahre in der Zukunft eine Graslandschaft, die an die Prärien Nordamerikas | |
| erinnert. Zwischen den Gräsern jagt ein Nagetier, dessen Vorfahre einmal | |
| auf Bäumen lebte: das Heuschreckenhörnchen (Sciurus orthopteraphagus). | |
| Wie der Name verrät, stammt es vom Eurasischen Eichhörnchen ab, das wir aus | |
| Deutschland kennen, und ernährt sich von Insekten. Nüsse und Baumfrüchte | |
| sind durch das Waldsterben aus seinem Nahrungsplan verschwunden. Doch durch | |
| die gestiegenen Temperaturen kam eine neue Proteinquelle für die kleinen | |
| Nager nach Europa. Riesige Heuschreckenschwärme ziehen von Afrika weiter | |
| nach Norden – leichte Beute für den geschickten Jäger. Der hat seinen | |
| Körper für die Jagd auf Fluginsekten spezialisiert. Das Hörnchen hat | |
| Flughäute ausgebildet, mit denen es durch die Luft gleiten kann. | |
| Im Vergleich zu seinen Vorfahren ist der Schwanz des Hörnchens, den es zum | |
| Steuern in der Luft braucht, wesentlich kürzer und weniger buschig. Auch | |
| die Zähne der Eichhörnchennachfahren sind spitzer, um die Panzer der | |
| Heuschrecken zu knacken. | |
| Biologischer Hintergrund: Der wesentliche Faktor für diesen evolutionären | |
| Vorgang ist der Druck, sich auf eine neue Nahrungsquelle zu spezialisieren. | |
| Wird eine Art durch die Veränderung ihres Ökosystems von der restlichen | |
| Population getrennt, spricht man von einer ökologischen Vikarianz. So ist | |
| es vorstellbar, dass das Eurasische Eichhörnchen in der Zukunft in anderen | |
| Gebieten, in denen es noch Wälder gibt, parallel zum Schreckenhörnchen | |
| existiert. | |
| Blick in die Vergangenheit: Ein historisches Beispiel für Vikarianz sind | |
| die australischen Beuteltiere. Im Gegensatz zu ihren ausgestorbenen | |
| Verwandten auf anderen Kontinenten besiedelten sie unterschiedliche | |
| Lebensräume, von den baumlebenden Koalas bis zu Graslandbewohnern wie | |
| Kängurus. Sie bildeten unterschiedliche Zahnmorphologien aus, die auf ein | |
| spezifisches Nahrungsangebot zugeschnitten sind. | |
| ## Das Deutsche Sumpfkrokodil | |
| Der Anstieg des Meeresspiegels hat das Gebiet von Hannover bis zur | |
| Mecklenburgischen Seenplatte in eine tropische Sumpflandschaft verwandelt. | |
| Eine Herde Wildschafe, Nachkommen der Zuchtschafe niedersächsischer Bauern, | |
| rastet an einem Tümpel, an dessen Rändern Mangroven wurzeln. Die Tiere | |
| horchen auf, im Wasser bewegt sich etwas. Plötzlich schnappt ein gewaltiges | |
| Maul nach einem der Schafe und reißt es ins Wasser. Das Deutsche | |
| Sumpfkrokodil (Crocodilus palustris var. germanica) hat zugeschlagen. | |
| Seine Vorfahren, Sumpfkrokodile aus Asien, hatte der Mensch fast | |
| ausgerottet. Durch Nachzuchtprojekte und Zoos kamen sie nach Europa. Als | |
| der Mensch ausstarb, schaffte es ein Dutzend der riesigen | |
| Süßwasserkrokodile, aus den Gehegen auszubrechen, während die anderen Tiere | |
| verendeten. Tausende Jahre später ist das Deutsche Sumpfkrokodil mit einer | |
| Körperlänge von bis zu 4 Metern eines der größten Raubtiere Europas und hat | |
| sich an das Leben im Brackwasser perfekt angepasst. | |
| Biologischer Hintergrund: Im Jahr 2023 hätten ausgesetzte oder entlaufene | |
| Krokodile keine Überlebenschance in Deutschland. Anders als bei | |
| gleichwarmen Lebewesen wie Säugetieren und Vögeln sind diese wechselwarmen | |
| Tiere auf die Umgebungstemperatur angewiesen, da diese ihre | |
| Körpertemperatur bestimmt. Erst wenn die kälteste monatliche | |
| Durchschnittstemperatur bei 8 Grad liegt, könnten Krokodile, die | |
| ursprünglich aus den Tropen kommen, in Nordeuropa überleben. Durch die | |
| Verschiebung der Klimazonen könnte dies in einem absehbaren Zeitraum | |
| passieren. Der kälteste Monat in Deutschland im Jahr 2022 war der Dezember | |
| mit einer Durchschnittstemperatur von 1,8 Grad Celsius. Bis Krokodile sich | |
| hier wohlfühlen können, würde es also noch eine ganze Weile dauern. | |
| Blick in die Vergangenheit: Man muss nicht allzu weit zurückschauen, um zu | |
| beobachten, dass sich Reptilien aus wärmeren Gebieten bei uns heimisch | |
| fühlen. Die Kalifornische Kettennatter wird immer öfter in Süddeutschland | |
| gesichtet. Wahrscheinlich haben sie Terrarienbesitzer ausgesetzt oder sie | |
| ist ihrer Gefangenschaft entkommen. Auf den Kanaren bedroht die aus | |
| Nordamerika stammende Natter bereits ganze Ökosysteme. Bei uns ist es noch | |
| zu kalt für eine schnelle Verbreitung der Schlange. Noch … | |
| ## Die Dumbokatze | |
| Die Dumbokatze (Felis magnauris) oder europäische Großohrenkatze ist ein | |
| direkter Nachkomme unserer Hauskatze, die sich mit Wildkatzen gepaart hat. | |
| Die verwilderten Samtpfoten mussten sich jedoch nicht nur an die | |
| Abwesenheit ihrer zweibeinigen Diener gewöhnen, sondern auch an den | |
| Klimawandel. Besonders auffällig sind die großen Ohren, die den Körper der | |
| Tiere kühlen. Ein Habitat der einzelgängerischen Jäger ist der | |
| Oberrheingraben. Wo sich früher der mächtige Fluss seinen Weg nach Norden | |
| bahnte, weht ein sandiger Wind über die Wanderdünen. Hier jagt die | |
| Dumbokatze Kleinnager und Eidechsen, die sich im Sand verstecken. Die | |
| leichtfüßigen Katzen haben keine Mühe, auf den Dünen zu laufen. Dabei ist | |
| der Oberrheingraben zu einem Gebiet geworden, das selbst für die meisten an | |
| Extreme gewohnten Lebewesen zu heiß ist. | |
| Biologischer Hintergrund: Die Allensche Regel, benannt nach dem | |
| US-amerikanischen Zoologen Joel Asaph Allen, besagt: Die Körperanhänge von | |
| Tieren in kälteren Gebieten sind kleiner, als die von Verwandten in | |
| wärmeren Gebieten. Körperanhänge sind Ohren, Nasen, der Schwanz und die | |
| Extremitäten. Aber warum ist das so? Die großen Ohren unserer Dumbokatze | |
| helfen bei der Kühlung des Körpers. Die Wärme, die über ihr Blut im Körper | |
| verteilt wird, kühlt sich an ihrer Körperoberfläche ab. Je größer also die | |
| Ohren, desto mehr Körperoberfläche kann Wärme abgeben. Und das wiederum | |
| bedeutet mehr Kühlung im heißen Dünensand. | |
| Blick in die Vergangenheit: Ein Vergleich mit fossilen Beispielen ist | |
| schwer, da kaum Weichteile, sondern nur Knochen die Zeit überdauert haben. | |
| Deswegen wissen wir wenig darüber, wie groß die Ohren früherer Tierarten | |
| waren. Gefrorene Mammuts weisen aber zum Beispiel extrem kleine Ohren auf, | |
| verglichen damit, wie groß ihr Körper war. Aus der Gegenwart gibt es | |
| zahlreiche Beispiele: Wüstenfuchs und Polarfuchs, asiatischer und | |
| afrikanischer Elefant oder Eselhase und Polarhase. | |
| 29 Jan 2023 | |
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