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# taz.de -- Einschätzung von Attentätern: lrre und krank?
> Werden in Deutschland extreme Taten begangen, ist oft von psychisch
> kranken Einzeltätern die Rede. Was aber, wenn das System krank ist?
Bild: Alles Einzeltäter? Kann das sein?
Im Oktober 2019 werden in Deutschland zwei Menschen ermordet. Ein
27-jähriger Mann wollte in Halle an der Saale eine Synagoge stürmen,
scheiterte und brachte anschließend zwei Menschen um. Der Attentäter
veröffentlichte zuvor ein umfassendes Pamphlet voller rassistischer und
antisemitischer Gedanken. Er glaubte an eine jüdische Weltverschwörung. Er
hasste unter anderem auch den Feminismus, war sich aber sicher, dass hinter
allem, was ihm sein Leben erschwert, letztlich die Juden steckten.
Krank. Der „fanatisch-ideologische Einzeltäter“ habe sich als „Teil“ e…
rechtsextremen Netzwerks „verstanden“, argumentierte die
Staatsanwaltschaft. Ein forensischer Psychiater bescheinigte dem Täter
später nach dreimaliger Befragung eine „komplexe Persönlichkeitsstörung mit
autistischen Zügen“. Im vergangenen Dezember nahm der Täter nach knapp zwei
Jahren Haft [1][in der JVA Burg zwei Geiseln] und versuchte zu fliehen. Er
scheiterte.
Im Februar 2020 werden in Deutschland [2][neun Menschen ermordet]. Bevor
der 43-jährige Täter in einer Shishabar um sich schoss, veröffentlichte er
einen Text, gesättigt mit rassistischen und antisemitischen Ideologien. Er
glaubte an einen Rassenkrieg, der bevorstehe oder bereits im Gange sei. Und
er glaubte daran, dass Geheimdienste mitverantwortlich dafür seien, dass
ihn keine Frau liebe.
Krank. Der Terrorismusexperte Peter Neumann sprach von einem „massiv
psychisch gestörten Einzeltäter“. Krankheit und Ideologie seien beim Täter
„untrennbar miteinander verschmolzen“, zudem fehle ihm die Fähigkeit, sich
mit seiner „krankhaft verformten Weltsicht“ auseinanderzusetzen, urteilte
ein forensisch-psychiatrisches Gutachten.
„Untrennbar verschmolzen“, „krankhaft verformte Weltsicht“: Sind Rassis…
und Antisemitismus nun eine Weltsicht oder eine Krankheit? Geht das eine
aus dem anderen hervor?
## Von Sozialpsychologie wollte niemand wissen
Noch keine hundert Jahre ist es her, dass die Theoretiker*innen der
Frankfurter Schule sich in ihren „Studien zum autoritären Charakter“ der
Frage widmeten, warum Menschen faschistischen Ideologien verfallen. Mit
Blick auf den Nationalsozialismus fragten sich die Forscher*innen, warum
Menschen Lust aufs Töten verspüren, sich als Teil eines mächtigen
Kollektivs verstehen wollen, warum sie mörderische Befehle geben und
ausführen. Die Studien offenbarten, wie viele Menschen insgeheim daran
glaubten, dass an ihrem individuellen Schicksal ganz konkrete Personen und
keine „überindividuellen“ Strukturen schuld sind. Das nütze den „falsch…
Propheten“ der herrschenden Klasse, argumentierten die Autor*innen: Statt
dass sich der Ärger über persönliche Missstände gegen das System richtet,
glauben die Leute lieber, ihr Nachbar sei schuld am eigenen Elend.
Die Studien waren nicht unumstritten, aber einflussreich. Jüngst wurden sie
wieder öfter diskutiert – etwa im Band „Konformistische Rebellen“ aus dem
Jahr 2020 –, weil die falschen Propheten in Form von autoritären Bewegungen
wieder erstarken. Weil es wieder Mächtige gibt, die sagen, dass am
Weltelend nicht falsche Strukturen schuld sind, sondern falsche Menschen.
Von Sozialpsychologie, vom Zusammenhang zwischen Charakter und Erziehung,
Gesellschaft und Ideologie wollten nach Hanau und Halle aber nur wenige
etwas wissen. Zu unangenehm sind die Fragen, die eine solche Analyse
provoziert. Leben wir etwa in einer Welt, die systematisch potenzielle
Mörder hervorbringt?
Nein, das kann nicht sein. Komfortabler: Die Täter sind irre, gestört,
autistisch, narzisstisch, schizophren oder paranoid oder
paranoid-schizophren; bedauerliche Einzelfälle in einer tragischen, aber
losen Reihe; braun verblüht kranke Pflänzchen auf einer ansonsten intakten
Wiese. „Es reicht nicht, einen Anschlag wie den in Halle zu verurteilen –
und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen“, sagte Bundespräsident
Frank-Walter Steinmeier am ersten Jahrestag des Attentats. Man müsse „die
Motive ergründen, die Hintergründe solcher Taten aufklären“. Die
„Ergründung“ sah in etwa so aus: Der Täter war einzeln und krank, so wie
alle anderen, die Krankes tun.
## Keine skurrilen Spinner
Selbst wenn die potenziellen Mörder in Kollektiven auftreten, sind es
irgendwie doch Einzelfälle. Eine „dreistellige Anzahl von
Verschwiegenheitserklärungen“ sollen die Ermittler*innen bei einer
Gruppe von 25 Festgenommenen gefunden haben, die sie der sogenannten
[3][Reichsbürgerbewegung zuordnen]. Eine Gruppe, bestehend aus
[4][ehemaligen Soldaten, Polizisten, Juristen, AfD-Mitgliedern, Neonazis
und weiteren Personen] hatte einen Putsch geplant, angeführt von einem
Adligen. Sie verfügten über Kampferfahrung, Waffen und Geld. Der Adlige
selbst schwang zuvor große Reden darüber, dass die Juden Kriege und
Revolutionen anzettelten. Seine Gefolgschaft fand das überzeugend. Teile
der Gruppe glaubten an die sogenannte QAnon-Theorie, nach der unter anderem
Juden Teil einer blutrünstigen Weltverschwörung seien. Auch der Attentäter
von Hanau glaubte das wie laut Studien etwa 15 Prozent aller
Amerikaner*innen.
Krank. Reichsbürger seien „psychisch auffällig“, kommentierte der
prominente Jurist und Spiegel-Kolumnist Thomas Fischer nach der Razzia. Er
gab aber Entwarnung: „Deutschland drohte weder ein Staatsstreich noch ein
Putsch.“ So sahen es viele. Eine Reporterin der Welt sprach auf Twitter von
[5][„verstrahlten Reichsbürger-Rentnern“] und wunderte sich über die
„äußerst eigenartigen Hysterie“ rund um den Fall. Der ehemalige
Innenminister Otto Schily gestand, er habe zwar „keine Erkenntnisse über
Organisationsgrad und Gefahrenpotenzial“ der Reichsbürger-Bewegung, halte
sie aber dennoch für eine „eher skurrile Spinner-Truppe“, die keine reale
Gefahr darstelle. Das reimte sich mit den Deutungen ordinärer Faschisten:
Von einer „Seifenoper“ rund um einen Staatsstreich, geplant von einem
„Häuflein“, sprach Björn Höcke am Tag nach dem Zugriff. Ein Häuflein: E…
23.000 Menschen umfasst laut Bundesverfassungsschutz das „Personenpotenzial
von Reichsbürgern und Selbstverwaltern“. Gerade einmal 5 Prozent gelten für
die Behörden als „rechtsextrem“, [6][fand die Süddeutsche Zeitung heraus].
Und der Rest? „Nur“ verrückt?
Psychische Krankheiten fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen in einer
bestimmten Gesellschaft, in einem bestimmten Zustand. Der Kulturtheoretiker
Mark Fisher erklärte so unter anderem, warum Millionen Menschen unserer
Zeit depressiv werden: Das Erodieren der staatlichen Vorsorgenetze –
Rentensystem, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Bildungssystem
– mache Menschen unsicher, nervös und auf lange Sicht krank. „Depression
ist die Schattenseite unserer Wirtschaftskultur, sie ist, was passiert,
wenn der magische Voluntarismus auf eingeschränkte Möglichkeiten stößt.“
Diejenigen, die das System am Laufen halten wollen, so Fisher, hätten ein
Interesse daran, dass psychische Krankheiten Privatsache bleiben. Sie
sollen nicht politisch thematisiert werden, damit keiner auf die Idee
kommt, dass irgendetwas faul sein könnte.
## Hausgemachte Ratlosigkeit
„Magischen Voluntarismus“ nannte Fisher den Glauben, dass man sich nur
genug anstrengen müsse, um seine Ziele zu erreichen. In der Realität finden
sich die meisten, die in diesem Glauben erzogen wurden, in einem System
wieder, dass davon lebt, dass es einigen ohne erkennbaren Grund schlechter
und anderen besser geht. Ist es denkbar, dass sich der Ärger darüber, die
Aggression, nicht nur nach innen richten kann wie bei der Depression,
sondern auch nach außen, gegen andere, vermeintlich Schuldige?
Für Apologeten des Kapitalismus ist es wichtig, diesen Gedanken gar nicht
erst aufkommen zu lassen. Er würde bedeuten, dass der doch so gerechte
Markt einige außen vor lässt. „Konformistische Rebellion“ nannten die
Theoretiker der Frankfurter Schule den Typus, der gegen alles rebellieren
will außer gegen die Ursachen seines Elends. Konformistische Rebellion ist,
wenn alles beim Alten bleiben soll, nur anders: Wenn nur die Juden nicht
wären oder der Feminismus oder die „Ausländer“, dann ginge es den Deutsch…
wieder gut, dann fände ein junger Mann eine Freundin, ein Adliger wäre
wieder Monarch.
Im November [7][2021 werden in Deutschland drei Männer in einem ICE mit
einem Messer angegriffen], einer von ihnen überlebt knapp. Vor der Polizei
und später vor Gericht argumentierte der Täter, er sei psychisch krank,
habe sich verfolgt gefühlt. Ermittler fanden auf seinem Smartphone
zahlreiche Videos von salafistischen Predigern, die im Sinne des Dschihad
zum Töten von „Ungläubigen“ aufrufen. Die Verteidigung sprach von einer
paranoiden Schizophrenie. Im Dezember 2022 erging das Urteil: 14 Jahre
Haft. Der Täter habe schuldfähig gehandelt, aus „islamistischen Motiven“,
eine psychische Krankheit habe er laut Bundesanwaltschaft „simuliert“.
Krank, nicht krank. Der eine imaginiert den Sieg der „weißen Rasse“, der
andere die Vorherrschaft seiner religiösen Splittergruppe. Sehnen sie sich
nach demselben? Danach, in einer imaginierten Zukunft zu den Gewinnern zu
gehören, zu denen, die bekommen, was sie verdienen?
Es so zu sehen wäre kompliziert. Es würde bedeuten, dass wir in einer Welt
lebten, die solchen Irrsinn systematisch produzierte und ihm nichts
entgegenzusetzen wüsste außer immer wieder „Trauer und Entsetzen“,
„thoughts and prayers“, Betroffenheit, Ratlosigkeit. Es würde auch
bedeuten, dass diese Ratlosigkeit hausgemacht wäre, weil bestimmte Gedanken
nicht gedacht werden sollten. Krank wäre das.
9 Jan 2023
## LINKS
[1] /Nach-lebenslanger-Haft-fuer-Stephan-B/!5902538
[2] /Rassistische-Morde-in-Hanau/!5751906
[3] /Der-Wahn-der-Reichsbuerger/!5901306
[4] /Razzia-gegen-Reichsbuerger/!5898636
[5] https://twitter.com/a_nnaschneider/status/1600828229186883584
[6] https://www.sueddeutsche.de/politik/reichsbuerger-rechtsextremismus-verfass…
[7] /Urteil-nach-Messerangriff-im-ICE/!5904525
## AUTOREN
Konstantin Nowotny
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