| # taz.de -- Flüchtlingsrat über Unterbringung: „Kein Geld, keine Kleidung“ | |
| > Der Münchner Flüchtlingsrat warnt: Das System der Ankerzentren in Bayern | |
| > steht nach Ansicht der Helfer kurz vor dem Kollaps. | |
| Bild: Ankerzentrum in Bamberg | |
| taz: Herr Esterer, Sie haben jüngst vor einem Zusammenbruch des bayerischen | |
| Lagersystems für Flüchtlinge gewarnt, warum? | |
| Robin Esterer: Wir merken, wie sich die Zustände in den [1][Ankerzentren] | |
| immer weiter verschlechtern. Wir fahren einmal in der Woche mit unseren | |
| Infobussen zu den Ankerzentren in München und Ingolstadt, um dort | |
| Flüchtlinge zu beraten. Und die Probleme, mit denen die Menschen in der | |
| letzten Zeit zu uns kommen, sind sehr grundlegende. Die Menschen kriegen | |
| oft über Monate keine Kleidung, keine Sozialleistungen, keine Dokumente. | |
| Ein Dach überm Kopf und Essen in der Kantine – das ist alles. Alle sind | |
| sehr frustriert. | |
| Wie kommt das? | |
| Die Behörden sind völlig überfordert, die Verfahren liegen teilweise seit | |
| Monaten auf Eis. Das aktuelle System funktioniert ja – in der Theorie – so, | |
| dass Personen nach der Einreise auf die Ankerzentren verteilt werden und da | |
| zunächst auch bleiben müssen. Erst nach einem oder anderthalb Jahren werden | |
| sie dann auf Gemeinschaftsunterkünfte weiterverteilt. Da diese Unterkünfte | |
| aber in Folge des [2][Ukraine-Krieges] sehr voll sind und die Kapazitäten | |
| nicht ausreichend erhöht wurden, gibt es einen enormen Rückstau. In der | |
| Folge sind jetzt auch die Ankerzentren überfüllt und oft werden sogar | |
| Personen aus den Ankerzentren in Turnhallen verlegt. Die Behörden sind mit | |
| der Situation völlig überfordert. Im Ankunftszentrum in München, wo die | |
| Flüchtlinge eigentlich registriert werden sollten, werden sie oft ohne | |
| Ausweisdokumente weitergeschickt – meist in das Ankerzentrum Manching in | |
| Ingolstadt. Die Registrierung ist allerdings Voraussetzung für Kleidung und | |
| Sozialleistungen. Darauf müssen Flüchtlinge jetzt manchmal monatelang | |
| warten. | |
| Es ist verdammt kalt dieser Tage. Warme Kleidung [3][wäre da eigentlich | |
| nicht verkehrt]. | |
| Stimmt. Aber zu uns in den Infobus sind Leute in kurzen Hosen und Flipflops | |
| gekommen – bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Zumindest Familien und | |
| Notfälle hat man jetzt versucht, notdürftig mit Kleidung zu versorgen, aber | |
| die anderen sind außen vor. | |
| Das heißt, sie können de facto das Haus nicht verlassen. | |
| Genau. Wobei das nicht nur an der fehlenden Kleidung liegt. Sie haben ja | |
| auch kein Geld für ein Busticket. Sie sind da im Prinzip eingesperrt. | |
| Was erleben Sie noch in Ihrem Beratungsalltag? | |
| Wir stellen beispielsweise auch fest, dass derzeit besonders viele | |
| unbegleitete Minderjährige nicht als solche erkannt und in die Ankerzentren | |
| geschickt werden, obwohl sie in Jugendhilfeeinrichtungen müssten. | |
| Es gibt derzeit [4][in Bayern 30 Standorte von Ankerzentren]. Ist die | |
| Situation da überall dieselbe? | |
| In Manching ist es am schlimmsten, weil dort die ganzen unregistrierten | |
| Geflüchteten landen. Aber auch in den anderen Zentren kommen die Behörden | |
| mit ihrer Arbeit nicht hinterher. Da werden beispielsweise Ausweise nicht | |
| verlängert, was dazu führen kann, dass Arbeitserlaubnisse verfallen, der | |
| Zugang zu Deutschkursen verwehrt wird oder die Menschen Probleme bei einer | |
| Polizeikontrolle bekommen. | |
| Gibt es denn wenigstens genug Betten? | |
| Jeder bekommt einen Schlafplatz. Aber aus München hören wir auch, dass dort | |
| regelmäßig Menschen in den Gängen und auf Feldbetten schlafen müssen. Das | |
| kann bis zu zwei Wochen gehen. | |
| Wie steht es um die [5][ärztliche Versorgung]? | |
| Auch dafür ist – außer in Notfällen – eine Registrierung notwendig. Aber | |
| auch dann dürfen die Bewohner nur zum Arzt in ihrer Unterkunft. Nach | |
| unserer letzten Information war der Arzt in Manching für über einen Monat | |
| ausgebucht. | |
| Wie könnte man den akuten Notstand beheben? | |
| Unsere erste Forderung wäre, dass die Menschen nicht mehr verpflichtet | |
| werden, in den Ankerzentren zu wohnen. Sehr viele Flüchtlinge hätten andere | |
| Unterkunftsmöglichkeiten, etwa bei Verwandten und Freunden. Das würde das | |
| System schon mal stark entlasten. Und dann bräuchten wir einfach | |
| niederschwellige Unterstützungsangebote, die auch ohne eine erfolgte | |
| Registrierung bereitgestellt werden. Bei der Hilfe für die Flüchtlinge aus | |
| der Ukraine hat das auch sehr gut und unbürokratisch geklappt. Ich sehe | |
| nicht ein, warum sich die bayerische Regierung dem bei Flüchtlingen aus | |
| anderen Ländern verweigert. | |
| Von Ankerzentren halten Sie ja ohnehin nicht viel. | |
| Absolut nicht. Das Grundkonzept der Lagerunterbringung ist einfach | |
| menschenunwürdig. Die Menschen werden eingesperrt und einer zentralen | |
| Kontrolle unterworfen. Sie sind von der Außenwelt abgeschnitten, haben | |
| keine Privatsphäre, müssen sich mit fünf bis sieben anderen ein Zimmer | |
| teilen, kriegen fast nur Sachleistungen, können ihr Essen nicht frei | |
| wählen. | |
| Die Ankerzentren sind ja eingeführt worden, um die Verfahren zu | |
| beschleunigen. | |
| Wenn man sich Statistiken anschaut, dauern die im Schnitt genauso lang wie | |
| vorher. Da gibt es nahezu keinen Unterschied. Ich halte das sowieso für | |
| einen vorgeschobenen Grund. In Wirklichkeit geht es doch darum, die | |
| Personen zu kontrollieren. Und ihre Integration zu verhindern, um eine | |
| [6][Abschiebung zu erleichtern]. Außerdem sollen solche menschenunwürdigen | |
| Unterkünfte natürlich auch der Abschreckung dienen. | |
| Die Ampel hat sich ja nach der Übernahme der Regierung für ein Ende der | |
| Ankerzentren ausgesprochen. Das scheint aber nicht in Sicht zu sein. | |
| Man werde das Konzept nicht weiterverfolgen, hieß es damals. Aber seit dem | |
| Regierungswechsel hat sich rein gar nichts geändert. Die Unterbringung von | |
| Flüchtlingen ist zwar Ländersache, aber natürlich hätte die Bundesregierung | |
| Möglichkeiten, um die Situation zu verbessern. Zum Beispiel könnte sie die | |
| Mindestaufenthaltsdauer in den Erstaufnahmeeinrichtungen streichen und die | |
| maximale Aufenthaltsdauer von derzeit bis zu 24 Monaten stark herabsetzen. | |
| Aber offenbar scheut man da den Konflikt mit Bayern und der Opposition. | |
| 21 Dec 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Mehr-Gefluechtete-in-Deutschland/!5880563 | |
| [2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
| [3] /Versorgung-von-Gefluechteten/!5900601 | |
| [4] /Fluechtlingsunterkuenfte-in-Bayern/!5841787 | |
| [5] /Mangellage-in-den-Kliniken/!5903128 | |
| [6] /Sonderbevollmaechtigter-fuer-Migration/!5903101 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominik Baur | |
| ## TAGS | |
| Geflüchtete | |
| Unterbringung von Geflüchteten | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Bayern | |
| Migration | |
| GNS | |
| Sachleistungen | |
| Flüchtlinge | |
| Seenotrettung | |
| Migration | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Union für Sachleistungen für Geflüchtete: Dann doch lieber weiter Bargeld | |
| Die Union plädiert für Sachdienstleistungen für Geflüchtete in den Heimen. | |
| Nicht nur bürokratisch gesehen ist das Bullshit. | |
| Wohnungskündigungen für Flüchtlinge: Lörrachs Nicht-Skandal | |
| In Lörrach soll Mietern gekündigt werden, damit Flüchtlinge einziehen | |
| können. Nach tagelangem Shitstorm erklärte sich die Stadtverwaltung | |
| erstmals. | |
| Geflüchtete im Mittelmeer: 108 Gerettete in Livorno gelandet | |
| Die Sea-Eye 4 erreicht den weit entfernten Hafen in der Toskana, den die | |
| rechte italienische Regierung dem Rettungsschiff zugewiesen hat. | |
| Brandenburger Landtag beschließt Haushalt: Abschiebezentrum nicht zu stoppen | |
| Trotz aller Bedenken soll die Finanzierung des Abschiebezentrums am BER | |
| beschlossen werden. Die Grünen sind unter Druck. | |
| Mehr Geflüchtete in Deutschland: Es wird wieder eng | |
| Kommunen klagen über steigende Geflüchtetenzahlen, Turnhallen werden wieder | |
| umfunktioniert. Ist es wirklich so dramatisch? | |
| Flüchtlingsunterkünfte in Bayern: Im „Ankerzentrum“ | |
| Nach der Flucht werden Menschen hier eingewiesen für schnellere | |
| Asylverfahren. Doch es gibt Kritik an den Lebensbedingungen in | |
| „Ankerzentren“. |