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# taz.de -- Pandemiestrategie in China: Chinas Trauma
> Erst strengste Nullcovidpolitik, jetzt Durchseuchung. Die chinesische
> Staatsführung nimmt mit ihrer Jojo-Politik eine Million Tote in Kauf.
Bild: Großer Andrang in einem Bestattungshaus in Peking am 17. Dezember
Ein geradezu surreales Nebeneinander ist derzeit in Chinas Hauptstadt zu
erleben. Da sitzen etwa in Sportbars die Feierwütigen wieder bis tief in
die Nacht vor Fassbier und Tequila-Shots. Und gleichzeitig reihen sich die
Leichenwägen vor den Bestattungsinstituten der Stadt im bitterkalten
Dezember zu langen Trauerschlangen.
In nur wenigen Wochen hat das bevölkerungsreichste Land der Welt eine
pandemische Kehrtwende hingelegt, die extremer nicht sein könnte, von einer
drakonischen „Null Covid“-Paranoia hin zur [1][schnellstmöglichen
Durchseuchung].
Das Virus, das einst als tödliche Gefahr galt, ist nun in den Staatsmedien
nur noch eine gewöhnliche Grippe. In Peking, das als Erstes von der
Omikron-Welle getroffen wurde, ließ sich beobachten, wie Kliniken
überrannt wurden, sich selbst das Krankenhauspersonal zuhauf infizierte und
Fiebermedikamente auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurden. Nun jedoch kehrt
das öffentliche Leben allmählich wieder zurück, und Tag für Tag bevölkert
eine wachsende Zahl Genesener die Restaurants, Shopping-Malls und
U-Bahnen.
Auch wenn nun scheinbar Normalität einkehrt, bleiben doch Narben, die
zweieinhalb Jahre „Null Covid“ hinterlassen haben. Monatelang [2][waren
Millionen Menschen in ihre Wohnungen eingesperrt], haben ihre Arbeit
verloren und konnten ihre Familienmitglieder nicht besuchen – nur, um
scheinbar willkürlich von einem Tag auf den anderen gesagt zu bekommen,
dass das „gefährliche Virus“ nun doch nur eine „gewöhnliche Grippe“ s…
Die Regierung bleibt den 1,4 Milliarden Chinesen und Chinesinnen schlüssige
Erklärungen für ihre Pandemiepolitik schuldig. Die Menschen sollen
akzeptieren, was die Staatsführung vorgibt, und den Regeln folgen.
## Die Null-Covid-Politik hat Menschen traumatisiert
Es ist natürlich kein Zufall, dass der derzeit meist geteilte Artikel auf
der Online-Plattform Weibo die psychische Verfassung der Menschen im Land
unter die Lupe nimmt. Darin heißt es, dass es noch bis zu 20 Jahre dauern
könne, ehe sich die Bevölkerung von den induzierten Depressionen,
Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen erholen könne.
Für Außenstehende ist kaum vorstellbar, welches Ohnmachtsgefühl die
Chinesen und Chinesinnen zuletzt erlebt haben. Wenn sie abends ins Bett
gingen, wussten sie nicht, ob am nächsten Morgen ihr Wohnhaus von Leuten in
Seuchenschutzanzügen abgeriegelt sein würde – oder albtraumhafter noch, ob
der Krankenwagen sie in eines der Quarantänelager verschleppt.
Jetzt allerdings sind die Sorgen andere: Dass nämlich das Gesundheitssystem
kollabieren könnte. In Schanghai haben die Behörden die Schulen angewiesen,
auf Online-Unterricht auszuweichen. Denn die Wirtschaftsmetropole steht
gerade auf dem Höhepunkt des rasanten Infektionsausbruchs. Derzeit liegen
die meisten Bewohner und Bewohnerinnen mit Fieber im Bett.
Der wahre Stresstest wird jedoch in den Hinterlandprovinzen erfolgen: Dort,
wo das Gesundheitssystem rudimentär entwickelt und das nächste moderne
Krankenhaus oft mehrere Autostunden entfernt ist.
Es scheint, als habe sich die chinesische Regierung für das Motto „kurz,
aber schmerzlos“ entschieden. Gesundheitsexperte Yanzhong Huang vom New
Yorker Council on Foreign Relations schreibt von einer „neuen Strategie“:
Anstatt die Infektionskurve flach zu halten, scheint die chinesische
Regierung eine schnellstmögliche Infizierung der Bevölkerung erzielen zu
wollen. Tatsächlich haben bereits mehrere Lokalregierungen die Menschen
aufgefordert, trotz milder Covid-Symptome wie gewohnt zur Arbeit zu
erscheinen.
Die Parteizeitung Global Times schrieb euphemistisch von einer „besseren
Balance zwischen epidemischer Vorbeugung und sozialer und wirtschaftlicher
Entwicklung“. Ausgerechnet im zentralchinesischen Zhengzhou lässt sich
beobachten, wie sehr die pandemische Jojo-Politik ganz offen auf dem
Rücken der Arbeitsmigranten ausgetragen wird. In der überdimensionalen
„IPhone-City“, wo rund 200.000 Menschen für den Apple-Zulieferer Foxconn am
Fließband schuften, hat sich das Coronavirus bereits rasch ausgebreitet –
kein Wunder, hausen die Arbeiter und Arbeiterinnen doch zu acht in
spartanischen Zimmern.
Offiziell müssen sich die Infizierten isolieren. Doch tatsächlich raten die
Vorgesetzten, sich trotz Symptomen schlicht nicht testen zu lassen. Und so
müssen viele von ihnen mit Fieber weiterhin ihre 11-Stunden-Schichten im
Akkord absolvieren – all das, um den taumelnden Wirtschaftsmotor möglichst
rasch wieder anzukurbeln.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits klargestellt, dass das
globale Ende der Pandemie durch die massiven Corona-Infektionsausbrüche in
China erst einmal in weite Ferne gerückt ist. „Die Frage ist, ob man es
tatsächlich postpandemisch nennen kann, wenn ein so bedeutender Teil der
Welt gerade in seine zweite Welle eintritt“, sagte die niederländische
Virologin Marion Koopmans der Nachrichtenagentur Reuters. Die
Volksrepublik sei derzeit wie ein Joker: Niemand könne einschätzen,
welche Überraschung die Durchseuchung von 1,4 Milliarden Menschen
bereithalten werde. Im schlimmsten Fall, davon ist auszugehen, werden in
China nach der Omikron-Welle über 1 Million Tote zu beklagen sein.
## Absurde Vorgaben und falsche Botschaften
Die Regierung scheint das nicht zu interessieren. Denn just, als die
Coronazahlen explodierten, änderten die Behörden die Kriterien, wann jemand
einem „Covidtod“ erlegen ist: Der verantwortliche Arzt muss eindeutig
belegen, dass das Virus den Tod ausgelöst hat, damit ein Opfer in den
Statistiken auftaucht. Deshalb kommt es zu geradezu absurden Zahlen, die
jedoch allabendlich stur in den Fernsehnachrichten verlesen werden: Am
Mittwoch vermeldete die nationale Gesundheitskommission offiziell nur etwas
mehr als 3.000 Infektionen und keine weiteren Coronatoten.
Die Regierungsstatistiken sind nicht nur eine Farce, sondern
gesundheitspolitisch höchst unverantwortlich: Sie vermitteln die Botschaft,
das Virus sei harmlos.
Doch viele tragische Schicksale mahnen, dass das Coronavirus eben doch
keine gewöhnliche Erkältung ist. Auch das von Chu Lanlan. Die Opernsängerin
ist mit 40 Jahren an den Folgen ihrer Infektion verstorben. „Wir müssen von
der harten Realität erzogen werden“, kommentiert ein trauernder Nutzer in
den sozialen Medien.
23 Dec 2022
## LINKS
[1] /Anti-Corona-Massnahmen-in-China/!5901847
[2] /Corona-in-Xinjiang/!5881245
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
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