# taz.de -- Podcast über Klasse: Hyper, hyper | |
> Mit einem Podcast will das linke Magazin „Jacobin“ den Fokus auf den | |
> Klassenkampf lenken. Funktioniert das? | |
Bild: Graffiti der Künstlerin Marycula in Berlin | |
Löhne, Tarife, Renten – was die Leute „früher“ beschäftigt und manchmal | |
sogar auf die Straße gebracht hat, mobilisiert heute nur noch selten. Geht | |
es dagegen um Identitäten und Lebensentwürfe, um richtige oder falsche | |
Worte, Kleidung, Ernährung, dann ist das Empörungspotenzial enorm. | |
So ließe sich die These des Historikers Anton Jäger zusammenfassen, der | |
Anfang des Jahres für das linke Magazin Jacobin in einem Essay beschrieb, | |
wie in der heutigen Zeit „der Kampf der Klassen“ durch „die | |
Gegenüberstellung von Identitäten“ ersetzt werde. „Hyperpolitik“ nannte | |
Jäger das. Entpolitisiert, so schreibt er, sei die Welt nicht – aber | |
anstatt dass es (wieder) ums Wesentliche geht, streitet man sich um | |
Oberflächlichkeiten. Und nichts verändert sich. | |
Brandneu ist diese These nicht, dennoch ist Jägers unaufgeregte | |
ideengeschichtliche Einordnung treffend – und inspirierte wohl auch | |
deswegen die Macher*innen des deutschen Ablegers von Jacobin dazu, einen | |
Podcast mit dem Namen „Hyperpolitik“ zu starten. „Während jeder noch so | |
belanglose Bereich des Alltags mit politisch aufgeladenen Kulturkämpfen | |
überzogen wird, steckt die Politik selbst im Modus der Alternativlosigkeit | |
fest“, heißt es im Ankündigungstext. | |
Seit November soll es nun alle zwei Wochen in einer einstündigen Sendung | |
endlich wieder ums Ganze gehen: Klassenlagen, Verteilungsfragen, [1][die | |
ganze Palette seit Marx]. Drei Episoden wurden bislang veröffentlicht, in | |
denen [2][Ines Schwerdtner, Chefredakteurin von Jacobin], und Nils | |
Schniederjann, zuständig für Audio und Video beim Magazin, über aktuelle | |
Themen sprechen. In der ersten Ausgabe ging es unter anderem ums | |
Bürgergeld, in der jüngsten Episode etwa um Korruptionsskandale in der EU, | |
die Reichsbürger-Bewegung und die Bestrebungen des Finanzministers, eine | |
Aktienrente einzuführen. | |
## Keine linke Lehrstunde | |
Insbesondere Letzteres ist ein komplexes Thema, bei dem Chefredakteurin | |
Schwerdtner in einer knappen Viertelstunde durch die Geschichte von | |
Bismarck bis Riester-Rente reiten muss, um zu erklären. Dann ordnet | |
Schniederjann nüchtern, aber klassenpolitisch ein: „Plötzlich kämpft man | |
gemeinsam mit den Unternehmerinnen und Unternehmern dafür, dass die Aktien | |
steigen. Das ist total perfide, weil am Ende profitieren von den steigenden | |
Aktien im viel höheren Maße diejenigen, die sowieso schon viel haben.“ | |
Zur linken Lehrstunde verkommt das Format aber nicht: Schwerdtner und | |
Schniederjann tragen sympathisch-locker vor und lassen immer rechtzeitig | |
Raum für den ein oder anderen Gag neben all den ernsten Themen. Hauptsache | |
nicht von oben herab – das scheint der Anspruch zu sein, hinter dem hin | |
und wieder ein wenig Komplexität verschwinden darf. Keine falsche Idee für | |
einen Podcast, der sich zumindest der Theorie nach nicht nur an | |
Student*innen, sondern an die gesamte beherrschte Klasse richten möchte. | |
Wie nun aber wegkommen vom „Modus der Alternativlosigkeit“? Zwar spielen | |
Gewerkschaften und Demonstrationen in den ersten drei Folgen „Hyperpolitik“ | |
durchaus eine Rolle, mobilisiert werden die Hörer*innen aber nicht so | |
richtig. Womöglich sollen sie das auch nicht. Dann stellt sich allerdings | |
die Frage, inwiefern der Podcast dem hyperpolitischen Modus linker | |
Debatten wirklich etwas entgegenzusetzen weiß. | |
Nichtsdestotrotz: Die ersten drei Folgen „Hyperpolitik“ lassen hoffen, dass | |
hier ein angenehm unaufgeregtes Format wächst, das seine Hörer*innen vor | |
allem etwas erklären möchte, ohne Handlungsempfehlungen und Sprachleitfaden | |
mitzuliefern. Wird das dem eigenen Anspruch gerecht? Vielleicht noch nicht | |
ganz. Aber man muss ja nicht aus allem gleich ein Politikum machen. | |
23 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Ausstellung-zu-Marx-und-Wagner-in-Berlin/!5831104 | |
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## AUTOREN | |
Konstantin Nowotny | |
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