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# taz.de -- „Jacobin“-Chefin über linkes Magazin: „Eine Utopie ist ein L…
> Ines Schwerdtner ist Chefredakteurin von „Jacobin“. Ein Gespräch über
> enttäuschte Hoffnungen und die ewige Suche nach der großen linken
> Erzählung.
Bild: Ines Schwerdtner sieht das Ziel darin, die Linke zu vergrößern
taz am wochenende: Frau Schwerdtner, in Deutschland gibt es zahlreiche
linke Zeitungen, Portale und Magazine. Wozu eine weitere Zeitschrift?
Ines Schwerdtner: Ja, stimmt, [1][die linke Presselandschaft] ist in
Deutschland größer als beispielsweise in den USA. Dennoch fehlte uns etwas.
Wir haben das Magazin gegründet, weil wir ein schickes, lesbares und
trotzdem radikales politisches Magazin wollen. Publikationen für ein
bestimmtes Milieu haben wir in Deutschland tatsächlich ausreichend. Unser
Ziel ist es, die gesellschaftliche Linke zu vergrößern. Wir versuchen nicht
nur diejenigen anzusprechen, die ohnehin schon links sind.
Wie kann das gelingen?
Durch eine sehr demokratische Sprache und einen anderen Zugang. Wir wissen,
dass wir Linken einen bestimmten Jargon sprechen und Debatten haben, die
außerhalb niemanden interessieren und die kein Mensch versteht. Es ist
unsere Aufgabe, die vielen klugen Gedanken aus diesen Kreisen in die
Öffentlichkeit zu tragen. Wir sind uns für den Weg über die Popkultur nicht
zu schade. Dieser Weg ist vielversprechend, denn er setzt am
Alltagsverstand der Leute an.
Allerdings geht es in den ersten online verfügbaren Artikeln um Dinge wie
EU-Finanzpolitik, die Klimakrise, den Richtungsstreit in der britischen
Labour-Partei. Nicht gerade leichte Themen.
Wir müssen natürlich eine Mischung schaffen aus kurzen Kommentaren, die
einfacher verständlich sind, und tiefergehenden Analysen. Auf diese wollen
wir nicht verzichten. Unser Ziel ist die Übersetzung in Alltagssprache,
auch wenn das natürlich nicht immer gelingt. Wir müssen auch mal
polemisieren und zuspitzen, dafür wird es dann aber gelesen.
Polemisierend ist auch [2][Ihr Werbeclip]. Darin sieht man einen Millionär,
der auf einem Luxusboot sitzt und verschmitzt grinsend erzählt: „Wenn der
Rest der Welt wüsste, wie es ist, auf so einer Yacht zu leben, bringen sie
die Guillotine zurück.“
Der Witz an dem Video ist, dass er das selbst sagt. Dass er sich selbst
ausstellt, ist etwas anderes, als ihn an den Pranger zu stellen. Es ist ja
allen Menschen schon irgendwie klar, wer von diesem System profitiert. Das
ist der Aufhänger der Zeitschrift. Die Frage ist nun, wie wir dazu kommen,
eine andere Politik zu machen.
Darunter verstehen Sie den demokratischen Sozialismus. Wie sieht denn Ihre
Vision einer sozialistischen Zukunft aus?
Im Kern geht es um eine menschliche Gesellschaft. Alles was dagegen steht,
müssen wir anprangern. Wenn Menschen ausgebeutet werden, im Meer sterben
oder auf der Straße leben müssen, dann ist das keine menschliche
Gesellschaft. Unsere Aufgabe ist, zu überlegen, wie es anders gehen könnte:
Wie können wir unsere Wirtschaft demokratischer planen? Wie
gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen?
Und wie?
Die Vision wäre, dass alle Menschen mitbestimmen können und zwar in allen
Bereichen, sei es die Wirtschaft, Stadtplanung oder Kultur. Die Menschen
sollen über ihre Zeit bestimmen können, und darüber, wie sie leben möchten.
Das ist das alte sozialistische Credo. Es geht nun darum, wie das im 21.
Jahrhundert umgesetzt werden kann.
Dafür braucht es eine verbindende linke Rahmenerzählung.
Die Rahmenerzählung muss im positiven Sinne die Frage beantworten: Wie
können wir so leben und wirtschaften, dass wir nicht unsere Natur zerstören
und eine menschliche Form des Zusammenlebens finden? Bei den Gewerkschaften
und der Klimabewegung beispielsweise müssen wir klarmachen, dass es keine
Interessen sind, die sich gegenüberstehen. Es ist unser gemeinsames
Interesse, nachhaltiger und gemeinwohlorientierter zu wirtschaften. Daran
führt kein Weg vorbei und [3][dafür brauchen wir politische Macht].
Helfen gesellschaftliche Utopien dabei?
Unbedingt. Eine Utopie ist ein Leitstern, den man braucht, um politische
Kämpfe im Kleinen durchzustehen. Man könnte ja nach politischen Niederlagen
wie bei der Sanders-Kampagne sagen: Das war es, wir hören auf, aktiv zu
sein. Es hilft, vorher schon mit Rückschlägen zu rechnen. Dieses System zu
ändern, wird nicht leicht. Ebenso wenig wie es leicht wird, die
Demokratische Partei in den USA oder die SPD zu verändern. Eine Utopie
hilft, mit diesen Rückschlägen umzugehen.
Bernie Sanders ist ebenso wie die populäre Kongressabgeordnete
[4][Alexandria Ocasio-Cortez] und andere Politpromis auf Ihrem ersten Cover
zu sehen. Brauchen soziale Bewegungen Held*innen als
Identifikationsfiguren?
Zumindest schaden sie nicht, wenn sie als Identifikationsfiguren dienen.
Denn ohne diese kommen wir nicht aus. Es ist natürlich besonders gut, wenn
eine Person verschiedene Widersprüche in sich vereinigt. In der Person von
Alexandria Ocasio-Cortez, einer jungen Frau puerto-ricanischer Abstammung
aus der Unterschicht der Bronx, lösen sich Klassen- und Identitätspolitik
auf wunderbare Weise auf. Sie kann sowohl überzeugend vor feministischen
Gruppen über Gewalt an Frauen als auch vor Arbeiterinnen und Arbeitern bei
Toys „R“ Us sprechen.
Gleichzeitig können Held*innen davon ablenken, dass es gesellschaftliche
Organisierung braucht, um Wandel herbeizuführen.
Die Rolle von Identifikationsfiguren ist ambivalent. Wenn große Personen
scheitern oder Fehler machen, kann das dazu führen, dass die Bewegung den
Mut verliert. Wir müssen natürlich aufpassen, dass Identifikationsfiguren
nicht zu Heldenfiguren und als unfehlbare Menschen stilisiert werden. Daher
haben wir neben den Figuren auf dem Cover, die jeder kennt, viele normale
Menschen im Heft, die ihre Geschichten erzählen. Auf diese Menschen kommt
es an.
Eine weitere Heldenfigur zeigt das Logo von „Jacobin“ mit dem „schwarzen
Jakobiner“, wie die Aufständischen in der haitianischen Revolution hießen.
Wieso dieses Symbol?
Unser Motto, die französische Revolution zu radikalisieren, steckt schon im
Namen „Jacobin“. Die haitianische Revolution ist dafür ein schönes
Beispiel, weil es um den Sklavenaufstand und die Selbstbefreiung der
Menschen geht. Unsere Aufgabe ist es, die Ideale der französischen
Revolution in die Wirklichkeit zu holen. Der schwarze Jakobiner ist nicht
im historischen Gedächtnis der Deutschen. Daher unser Cover: Wir müssen
jetzt eigene Geschichten erzählen von politischen Heldinnen und Helden.
Wer hat denn in Deutschland das Potenzial dazu? Etwa Kevin Kühnert, der
ebenfalls auf dem Cover ist und den Sie in der ersten Ausgabe interviewen?
Kevin Kühnert ist zumindest ein Anwärter für die junge Politik
sozialdemokratischer Art. Auch die Klimabewegung hat einige
vielversprechende junge Frauen. Im Moment gibt es jedoch keine Figur, die
die verschiedenen Milieus zusammenbringt und für die verschiedenen Facetten
linker Politik begeistert. Die Person müssen wir noch finden.
1 May 2020
## LINKS
[1] /Geschichte-linker-Medien-im-Ueberblick/!5412732
[2] https://twitter.com/jacobinmag_de/status/1247409526955028480
[3] /Buch-ueber-linke-Mehrheiten/!5667935
[4] /Tanzvideo-von-US-Linker-Ocasio-Cortez/!5562783
## AUTOREN
Georg Sturm
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