# taz.de -- Buch über linke Mehrheiten: Kabinettstisch und Straße | |
> In ihrem neuen Buch skizziert Linken-Chefin Katja Kipping zwei | |
> gefährliche Zukunftsszenarien. Um das zu verhindern, brauche ihre Partei | |
> mehr Mut. | |
Bild: „Mit Rot-Rot-Grün Schwarz-Blau verhindern“: Kipping auf der Demo geg… | |
BERLIN taz | „Dieser Text ist eine Einladung zu neuen linken Mehrheiten“, | |
schreibt Katja Kipping gleich zu Beginn ihres neuen Buchs. Die | |
hundertseitige Streitschrift „Neue linke Mehrheiten – eine Einladung“ ist | |
ein Plädoyer für eine Regierung links der Mitte. | |
Kipping, Vorsitzende der Linkspartei, skizziert darin, warum es eine | |
„sozial-ökonomische Wende“ dringend braucht und wie ein konkretes Programm | |
für eine solche aussehen könnte. Mit ihrem Buch wagt sich Kipping innerhalb | |
ihrer Partei weit vor. Diese diskutierte am vergangenen Wochenende auf | |
einer [1][Strategiedebatte der Linkspartei] zunächst einmal ausgiebig, ob | |
und unter welchen Bedingungen sie überhaupt im Bund regieren will. | |
Kipping sieht die Welt an einem Scheideweg. Ihr zufolge drohen zwei | |
gefährliche Zukunftsszenarien: Auf der einen Seite ein „autoritärer | |
Kapitalismus“, der eine Symbiose aus Nationalismus und einer marktradikalen | |
Wirtschaftspolitik sowie modernen Überwachungstechniken darstellt. Auf der | |
anderen Seite ein „Neoliberalismus mit grünem Anstrich“ – also ein „We… | |
so!“ mit zögerlichen ökologischen Reformen. | |
Beide Szenarien finden laut Kipping ihre Entsprechung in parteipolitischen | |
Konstellationen. Schwarz-Blau/Braun, ein Bündnis aus Konservativen mit der | |
völkischen Rechten, stünde für eine solche autoritäre Ausprägung des | |
Kapitalismus. Prominentes Beispiel dafür ist die vorerst gescheiterte | |
Koalition der konservativen Österreichischen Volkspartei mit der | |
völkisch-rechten Freiheitlichen Partei in Österreich. Aber auch Staatschefs | |
wie Trump, Orbán oder Erdoğan verkörperten diese Mischung aus | |
Wirtschaftsliberalismus und einer autoritären Regierungsweise. | |
Der dritte Weg | |
Das moderierende „Weiter so!“ sieht Kipping wiederum in einem | |
schwarz-grünen Bündnis, wie es sich viele in der Union und bei den Grünen | |
wünschten. Diese Politik würde, so Kipping, die systemischen Ursachen für | |
Klimawandel und soziale Ungleichheit unangetastet lassen. Ebenfalls am | |
Beispiel Österreichs zeigt die Linken-Politikerin auf, wie die Grünen für | |
etwas mehr Klimaschutz die autoritäre Abschottungspolitik und die | |
neoliberale Wirtschaftspolitik ihres Regierungspartners in Kauf genommen | |
haben – und damit hinter ihren Ansprüchen zurückgeblieben sind. | |
Alternativ zu diesen beiden Szenarien eröffnet Kipping eine dritte | |
Perspektive: Das „progressive Ausstiegs-Szenario aus der gegenwärtigen | |
Krise“ liegt für sie in einer [2][sozial-ökologischen Transformation]. Ihre | |
Vorbilder: progressive Regierungen und Politiker*innen wie die | |
Linksregierung in Neuseeland, das Mitte-links-Bündnis in Portugal oder die | |
US-Politstars Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez. | |
Von Letzteren hat sich Kipping auch deren geschicktes Framing abgeschaut: | |
Sanders und Ocasio-Cortez ist es gelungen, vergleichsweise radikale linke | |
Forderungen in den USA wieder in den Bereich des Sagbaren zu bugsieren. Sie | |
stellen dabei das Verbindende in den Vordergrund und knüpfen an geteilte | |
Werte oder Traditionen an. | |
Ein Beispiel dafür ist der Green New Deal: Darunter verstehen progressive | |
Demokrat*innen einen sozialökologischen Umbau der Wirtschaft für mehr | |
Klimaschutz durch ein großangelegtes Investitionsprogramm in Infrastruktur | |
und nachhaltige Energieträger – bei gleichzeitigem sozialen Ausgleich. | |
Das Gemeinsame in den Vordergrund | |
Vorbild ist in diesem Fall der New Deal des ehemaligen US-Präsidenten | |
Roosevelt. Mit einer Reihe groß angelegter Wirtschafts- und Sozialreformen | |
wurden die von der Weltwirtschaftskrise gebeutelten Vereinigten Staaten in | |
den 1930er Jahren wieder auf die Spur gebracht. War der New Deal eine | |
Antwort auf die damalige Wirtschaftskrise, so soll der Green New Deal nun | |
die drohende Klimakrise verhindern. | |
Kipping fordert, dass die gesellschaftliche Linke in Deutschland „heraus | |
aus der Defensive“ kommen und „Mut zu großen Erzählungen“ haben müsse.… | |
die enormen Widerstände zu überwinden, die einer potenziellen | |
Mitte-links-Regierung drohen würden, plädiert sie dafür, dass sich das | |
linke Lager nicht spalten lassen dürfe und vielmehr das Gemeinsame in den | |
Vordergrund stellen müsse. | |
„Lasst uns nicht immer nur darüber reden, was die Klimaaktivistin, den | |
Kohlekumpel und die Rentnerin trennt. Lasst uns darüber sprechen, was den | |
Facharbeiter, die Feministin und die Forscherin verbindet“, schreibt | |
Kipping. Bei allen Unterschieden progressiver Parteien, Stiftungen, | |
Verbände, Gewerkschaften und Initiativen hätten diese einen gemeinsamen | |
Horizont: „Sie betonen die produktive Kraft einer öffentlichen | |
Infrastruktur, die nicht am kurzfristigen Profit, sondern am | |
gesellschaftlichen Bedarf ausgerichtet ist.“ | |
Die Linken-Vorsitzende fordert eine Umverteilung des Reichtums von oben | |
nach unten, öffentliche Zukunftsinvestitionen und Daseinsvorsorge, | |
wirksamen Klimaschutz sowie die Förderung solidarischer Wirtschaftsmodelle | |
– ganz nach dem Credo „Mehr Demokratie, weniger Markt“. Die Vision einer | |
demokratischen Wirtschaft sei ein Projekt, das Linke, Sozialdemokrat*innen, | |
Ökolog*innen und Sozialliberale vereinen könne, glaubt Kipping. | |
## Kabinettstisch oder Straße? | |
Doch wie kann eine solche Politik praktisch umgesetzt werden? Kipping ist | |
sich dessen bewusst, dass sich linke Mehrheiten mit massiven Widerständen | |
aus Bürokratie, Wirtschaft sowie anderen Eliten konfrontiert sehen würden. | |
„Selbst wenn neue linke Mehrheiten es an die Regierung schaffen, haben sie | |
noch lange nicht die Macht“, stellt Kipping klar. | |
Daher plädiert sie für eine neue Art des Regierens, nämlich das „Regieren | |
in Bewegung“. In einer „wirklich großen Koalition“ würden Bewegungen, | |
Initiativen, Verbände, Gewerkschaften und Parteien gleichermaßen eine Rolle | |
spielen. | |
Als Positivbeispiel zieht die Linke-Politikerin die Berliner | |
Wohnungspolitik heran. Dort sorgten vielfältige Mieter*innenproteste sowie | |
die Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ für neue | |
gesellschaftliche Mehrheiten. Erst in diesem politischen Klima und dank des | |
gesellschaftlichen Rückenwinds wurde es möglich, mit dem Mietendeckel einen | |
radikalen Eingriff in den Mietenmarkt im Berliner Senat umzusetzen. | |
Kabinettstisch oder Straße? Das Beispiel Berlin zeige, dass dieser unter | |
Linken viel diskutierte Widerspruch künstlich sei. | |
Kipping bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das Konzept der | |
„Mosaiklinken“ des Instituts Solidarische Moderne, einer | |
parteiübergreifenden Programmwerkstatt, die linke Politikkonzepte | |
entwickelt und deren Vorstand Kipping angehört. Der Gedanke der | |
„Mosaiklinken“ geht davon aus, dass nur die einzelnen Teile der | |
gesellschaftlichen Linken gemeinsam ein ganzes Bild ergeben. Partei und | |
Straße werden hier explizit nicht als Gegensätze, sondern als | |
unterschiedliche Politikmodi verstanden. | |
## Eine Regierung der Hoffnung | |
So einleuchtend Katja Kippings Ausführungen erscheinen mögen, es gelingt | |
ihr nicht, ausreichend zu erklären, wieso die politische Rechte und nicht | |
die Linke aus den sozialen und ökologischen Krisen der Gegenwart Kapital | |
schlägt. Ihre Partei hat im vergangenen Jahr bei drei Wahlen, in Europa, | |
Sachsen und Brandenburg, massive Verluste erlitten. | |
Ebenso bleibt sie eine Antwort auf die Frage schuldig, welche Fehler ihre | |
und andere Parteien gemacht haben und warum diesen die Wähler*innen – | |
insbesondere in ihren Stammmilieus – davonlaufen. Für solche Tendenzen ist | |
Kipping als langjährige Parteivorsitzende der Linken zumindest | |
mitverantwortlich und müsste diese schärfer analysieren. | |
Anstelle eines Anhangs präsentiert Kipping einen Katalog an „Projekten für | |
eine Regierung der Hoffnung“: Umverteilung und soziale Sicherheit, ein | |
soziales Europa mit substanziellen Investitionen ins Öffentliche, höhere | |
Löhne und bezahlbare Mieten, nachhaltige Handelspolitik und massiver | |
Klimaschutz, Transparenz und Mitbestimmung – das Programm klingt | |
verheißungsvoll. | |
Jüngsten Umfragen zufolge hätten Grüne, SPD und Linke derzeit eine Mehrheit | |
im Bund. Angesichts einer in Bezug auf die Regierungsfrage gespaltenen | |
Linkspartei, einer schrumpfenden SPD und den mit der CDU flirtenden Grünen | |
fehlt für die Umsetzung eines solchen linken Regierungsprogramms jedoch | |
noch eins: der gemeinsame politische Wille. | |
4 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Strategiekonferenz-der-Linkspartei/!5666699 | |
[2] /Linkspartei-und-das-Klima/!5665784 | |
## AUTOREN | |
Georg Sturm | |
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