# taz.de -- Familienbetrieb in Sachsen: Früher war mehr Puppenstube | |
> Ingo Loebner führt den ältesten Spielzeugladen Deutschlands in zwölfter | |
> Generation. Das Internet? Ist für ihn kein Feind, es hilft beim | |
> Überleben. | |
Bild: Ingo Loebner ist der aktuelle Chef des Spielzeuggeschäfts in Torgau, geg… | |
TORGAU taz | Jeden Morgen, wenn Ingo Loebner aus seiner Wohnung im | |
Obergeschoss tritt und die enge Steintreppe hinunterläuft, steigt er auch | |
in die Jahrhunderte hinab. Von der Wand mustern ihn seine Vorfahren – Vater | |
Jörg, der elfte Loebner, Großvater Johann-Georg, der zehnte, Urgroßvater | |
Otto-Curt, der neunte, es folgen der achte, der siebte. Den Fotografien | |
schließen sich die Gemälde an, Johann-Wilhelm etwa, der sechste. Es ist wie | |
eine Wache von ernsten Herren, alle Kaufleute, alle Inhaber vom | |
Spielwarengeschäft „Carl Loebner“ in Torgau an der Elbe in Sachsen. | |
Ingo Loebner weist auf die Ahnen und sagt: „Das ist meine Bürde und meine | |
Motivation.“ Klang da eben Stolz heraus? Oder war es Last? Aber er eilt | |
schon weiter, schiebt einen Vorhang beiseite und steht im Geschäft, links | |
die Kaufmannslädchen. „Die gehen gut“, bemerkt Loebner im Vorbeigehen. „… | |
Weihnachten“, schränkt er ein. „Ist aber rückläufig“, schränkt er wei… | |
ein. Schon Vorschulkinder bestellen heute per Handy. Sagt’s und | |
verschwindet im Kontor. | |
Es ist ein unscheinbares Büro – und das Herzstück des Handelshauses, das | |
1685 vom ersten urkundlich nachweisbaren Loebner gegründet wurde und damit | |
Deutschlands ältestes Spielwarengeschäft ist. Und eine reine | |
Männerwirtschaft – stets wurde es vom Vater auf den ältesten Sohn | |
übergeben, Ingo Loebner, 46 Jahre alt, ist seit 2018 der zwölfte. | |
Wer im Geschäft Museales erwartet, alte Lampen, Prunktüren, antikes | |
Spielzeug, wird enttäuscht. In den Regalen reihen sich bis an die Decke | |
Modellbaukästen. Am anderen Ende sind Traktoren geparkt, Mähdrescher, | |
Mähwerke und Pflüge. Nebenan der Zoo, bevölkert von plüschigen Hamstern, | |
Tukanen, Waschbären, Igeln. In Sichtweite grinsen Sandmännchen. „Sandmann, | |
ganz großes Thema, inzwischen auch im Westen“, sagt Loebner. Er freut sich. | |
Der Chef hat die Heizung wohl ein wenig gedrosselt. Umsichtiges Handeln | |
gehört zur Loebner’schen Überlebensstrategie. Für die Frauen im kühlen | |
Außenlager hat er dicke Jacken gekauft. | |
## Im ersten Lockdown 120 Tage dicht | |
Krisen haben die Loebners viele überstanden, von der napoleonischen Zeit | |
über den Untergang der DDR bis zu Corona. Das Virus hat dem Verkauf im | |
Laden fast den Garaus gemacht, berichtet Ingo Loebner, 120 Tage musste er | |
im ersten Lockdown dichtbleiben. Das Geschäft florierte dank des | |
Onlinehandels. Die Umsätze waren enorm. Geduldsspiele gingen haufenweise | |
raus, Puzzlespiele waren der Renner. | |
Das Hauptproblem war die Beschaffung der Ware. Es klemmte überall, Loebner | |
fühlte sich an die DDR-Mangelwirtschaft erinnert, als der Vater und der | |
Großvater mit dem Lada ins [1][Erzgebirge fuhren, um Nussknacker und | |
Räuchermännchen zu organisierten], im Tausch gegen | |
Trabant-Windschutzscheiben. [2][2021 blieb viel Spielzeug aus Fernost in | |
chinesischen Häfen stecken], im Suezkanal oder bei den Auslieferern. | |
Jetzt sind die Lieferwege stabiler, nun fehlt den Kunden das Geld. Die | |
Inflation, lange eine ferne Erinnerung, ist zurück. Die Loebners kennen | |
sich mit Geldentwertung aus, mit Kaufzurückhaltung ebenfalls. Am 8. | |
Dezember 1923 registrierte die Kasse Einnahmen von 3,6 Billiarden Mark – | |
Rekord. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1932 zählte die Kasse am | |
Abend 18,22 Mark, ebenfalls Rekord. | |
Ingo Loebner, der jüngste Spross der Familie, hat alle Anekdoten auf Lager. | |
Er spricht mit eher weicher, manchmal zögerlicher Stimme, erzählt vom | |
vierten Loebner, Johann-George, der während der napoleonischen Besatzung | |
wegen Steuerschuld exekutiert werden sollte. Ob er dann doch bezahlt hat, | |
lässt sich nicht rekonstruieren. Sein Urahn, der zwölfte Loebner, hat sich | |
nun wie ein Commandeur in den Bürosessel fallen lassen. | |
## Süßer die Kassen nie klingeln | |
Auf dem Monitor vor sich verfolgt er den Onlinehandel. Auf dem über ihm die | |
Bilder von Überwachungskameras. Sie kontrollieren Gänge, haben die Kasse im | |
Visier und auch das Außenlager am Stadtrand, wo die Mitarbeiterinnen | |
Bestellungen abarbeiten. Der Pakethandel floriert. Ein Drittel des | |
Jahresumsatzes beschere das Weihnachtsgeschäft, sagt Loebner. | |
Die Theke im Erdgeschoss bleibt hingegen leer. Gestern hat der Chef an der | |
Kasse ausgeholfen. „Es ist zum Heulen“, sagt er. Es kommen Leute, sie | |
begutachten alles, suchen im Handy nach dem niedrigsten Preis und wollen | |
feilschen. Es gebe auch treue Kundschaft, im Umland. „Die haben mit | |
Internet nichts am Hut“, die kauften seit Generationen bei „Carl Loebner, | |
gegr. 1685“. Doch der Kreis wird kleiner. | |
Eigentlich ist es auch das älteste Spielwarengeschäft der Welt, sagt | |
Loebner plötzlich. Aber die Beweislage: schwierig. Das Guinness-Buch der | |
Rekorde habe eine lückenlose Dokumentation der Geschäftsübergaben | |
gefordert, die Loebner nicht liefern kann. „Damals ging das doch per | |
Handschlag“, er ereifert sich kurz, aber was will man machen. So erhielt | |
Hamley’s in London den Ritterschlag von Guinness als „ältestes | |
Spielwarengeschäft der Welt“. Dabei wurde der Laden erst 1760 von William | |
Hamley gegründet. | |
Hamley’s ist nicht nur jünger, sondern auch deutlich windiger als das | |
Torgauer Traditionshaus. Wie oft wurde der Toy Store verkauft und von | |
Investor zu Investor weitergereicht. Nur der schöne Schein vom Flagship | |
Store auf der Regent Street blieb gewahrt. Hamley’s hat weltweit sechzig | |
Filialen und gehört zum Imperium des Inders Mukesh Ambani. Mit einem | |
geschätzten Vermögen von 91 Milliarden US-Dollar gehört er zu den zehn | |
reichsten Menschen auf Erden. In Mumbai lebt er in einem 173 Meter hohen | |
Turm. | |
## Ein gutes Angebot von Amazon | |
Ingo Loebner braucht sich aber nicht zu verstecken. Torgau an der Elbe ist | |
eine ehemalige sächsische Residenz mit einem prächtigen Schloss, Luther | |
ging dort ein und aus. Loebners Haus am Markt hat einen Renaissancegiebel | |
und eine Wetterfahre obenauf. Weltweit aktiv ist Loebner ebenfalls. Das hat | |
mit dem fünftreichsten Mann zu tun, Jeff Bezos, [3][und dessen Erfindung | |
Amazon]. | |
Mit dem Onlinehändler ist Ingo Loebner eine schicksalhafte Verbindung | |
eingegangen. Begonnen hat sie 2013 mit einer Anfrage, beim Market Place von | |
Amazon mitzumachen. Man merkt, wie froh Loebner 12 heute noch ist, dass er | |
gemeinsam mit Loebner 11 – sein Vater Jörg war damals noch Eigentümer – d… | |
Angebot angenommen hat. Der Spielwarenhändler ist auch auf anderen | |
Plattformen aktiv, doch Amazon beschert den größten Umsatz und den größten | |
Gewinn, mag der Konzern auch 15 Prozent vom Brutto einbehalten. | |
„Man musste immer neue Ideen entwickeln“, fasst Ingo Loebner die Erfahrung | |
von Jahrhunderten zusammen. Ideen haben die Loebners viele entwickelt. | |
Vater Jörg musste 1990 das Geschäft aus der Mangel- in die Marktwirtschaft | |
führen. Das Versandhaus Quelle wurde bald mächtiger Konkurrent. Inzwischen | |
ist es Geschichte. Es hat den Onlinehandel verpasst. Großvater Johann-Georg | |
schlug sich mit den SED-Genossen herum. Nur ein glücklicher Zufall | |
verhinderte 1972 die Enteignung. Und Urgroßvater Otto-Curt brachte das | |
Geschäft durch zwei Kriege, Inflation, Weltwirtschaftskrise und NS-Zeit. | |
Otto-Curt war es auch, der 1935, die „Nürnberger Rassegesetze“ traten in | |
Kraft, eher zufällig auf die Familiengeschichte stieß. Als er im Archiv | |
recherchierte, um den „Ariernachweis“ zu erbringen, erfuhr er vom | |
Drechslermeister Christoph Löbner, der 1685 in der Leipziger Thomaskirche | |
heiratete, mit seiner Frau nach Torgau zog und fortan Püppchen, Kreisel, | |
Kegel und Pfeifen drechselte und feilbot. | |
Heute verpacken die Mitarbeiterinnen im Lager im Schnitt mehr als 500 | |
Bestellungen täglich, im Dezember sind es deutlich mehr. Drei Lkws rollen | |
jeden Tag aus dem Lager. Über 80.000 Artikel sind online gelistet, darunter | |
reichlich Amazon-Bestseller, etwa die Spieluhr „Schlummerotter“, ein | |
Kunstblumenstrauß zum Basteln und der Monster-Truck „Jam El Toro“ von Lego. | |
Ingo Loebners Hauptbeschäftigung besteht darin, die Preise im Blick zu | |
behalten. Details verrät er nicht, nur so viel – es gibt einen Algorithmus, | |
der blitzschnell die Konkurrenz checkt und den Preis festlegt. Loebner | |
bestimmt nur einen Korridor. | |
„Ohne Amazon würde es Loebner nicht mehr geben“, sagt er. Loebner versucht | |
gar nicht erst zu verbergen, wie sein Schicksal inzwischen mit dem | |
Onlinegiganten verbunden ist. Loebner ruft die Amazon-Seite auf. 28.662 | |
positive Bewertungen gibt es, 359 negative, meist Beschwerden über | |
Zusteller. Im weltweiten Netz mit seinen halbseidenen Händlern, kruden | |
Versprechen und schwarzen Schafen hilft ihm die Familientradition als | |
Qualitätsmarke, ist Loebner überzeugt. „Denn das älteste Geschäft | |
Deutschlands hat einen Ruf zu verlieren.“ | |
## Auf das Internet angewiesen | |
Was aber würde passieren, wenn einmal etwas länger das Internet ausfällt? | |
„Dann ist zappenduster“, sagt Loebner. Genauso beim Strom. Neulich hat er | |
ein Notstromaggregat gekauft. Auch im Regal hat der [4][Ukrainekrieg] | |
bereits Folgen gezeitigt. Die inzwischen bekannte Panzerhaubitze 2000 | |
findet sich hier genauso als Bausatz wie der „Leopard II“. Allerdings auch | |
der „Tiger“ der Wehrmacht. „Zweiter Weltkrieg geht immer“, bemerkt Loeb… | |
trocken. | |
Als Kaufmann müsse man mit allem handeln können, sagt Loebner. Es gehe vor | |
allem um Zahlen, um Einkaufspreise, Verkaufspreise, Gewinnmargen, Kosten, | |
dazu kommen Trends, die man beobachten muss. „Der Kaufmann liegt mir im | |
Blut“, sagt Loebner. „Ich kann Schuhe verkaufen, Autos, Herrenbekleidung.“ | |
Als Kind stand er schon im Laden. Allerdings hat Ingo Loebner sein Glück | |
erst einmal woanders gesucht. | |
Sechs Jahre lebte er in Würzburg. Loebner hatte sich dort eine Existenz | |
aufgebaut. Dann kam der Ruf aus Torgau. Großvater Johann-Georg, der Mann, | |
der den Laden erfolgreich durch die DDR brachte, nahm ihn, den einzigen | |
Sohn seines Sohnes, in die Pflicht. Obwohl die Lebensaufgabe bekannt war – | |
leicht ist es Ingo Loebner wohl nicht gefallen. 2018 war Geschäftsübergabe. | |
Oben im Haus haben die Loebners eine kleine Ausstellung eingerichtet. Hier | |
oben wimmelt es von Puppenköpfen, Soldaten aus dem Kaiserreich und aus der | |
DDR, Gleisen und Eisenbahnen, Weihnachtsengeln, Wackelfiguren, an der Wand | |
prangen Urkunden und Schwarzweißbilder. Und über allem hängt eine | |
Kollektion Armbrüste samt hölzernen Vögeln. Ingo Loebner blickt etwas | |
unschlüssig auf das Sammelsurium, kramt dann in Kartons, packt Schachteln | |
aus. Kaufleute haben für Traditionspflege kaum die nötige Zeit. Großvater | |
Johann-Georg hat das geahnt und 2006 dem Stadtmuseum die wertvollsten | |
Pretiosen als Leihgaben vermacht. Seitdem gibt es dort, in der ehemaligen | |
kurfürstlichen Kanzlei, ein Loebner-Zimmer. | |
## Sandmann, lieber Sandmann | |
Ingo Loebner muss sich nicht lange bitten lassen. Er führt zum Schloss, | |
einem mächtigen Renaissancebau mit prächtiger Freitreppe, und weiter zum | |
Museum. Und Leiterin Cornelia König führt persönlich zur Loebner’schen | |
Ausstellung, wo die Jahrhunderte lebendig werden. Elfenbeindrechseleien, | |
200 Jahre alte Geschäftsbücher, Fotos vom DDR-Alltag, Inflationsgeld, | |
Bilderbücher in Sütterlin, eine Puppenstube. Das Prunkstück aber ist eine | |
Holzgliederpuppe, die so klein ist, dass sie in Watten gepackt und unter | |
einer Lupe präsentiert werden muss: „Die kleinste bewegliche Puppe der | |
Welt“, steht geschrieben, um 1870 entstanden, ein Loebner-Produkt. | |
Während die Museumsleiterin über Püppchen redet, steht Loebner inmitten der | |
eigenen Geschichte wie ein Gast. Allzu sehr scheint er dann doch nicht | |
darin eintauchen zu wollen. Das Weihnachtsgeschäft ruft. Unbedingt aber | |
will Cornelia König noch durch die Sandmann-Ausstellung führen, die am | |
nächsten Tag öffnet und bis Ende Februar in Torgau die Sandmann-Welt | |
präsentiert – Herrn Fuchs, Frau Elster, Pittiplatsch und natürlich den | |
[5][Sandmann in all seinen Sandmann-Kulissen], im Weltall, im Schnee oder | |
im Orient. Familienväter kennen das. Loebner auch, allerdings eher | |
geschäftsbedingt. Ingo Loebner ist bis jetzt kinderlos. | |
Wenn es eine Last ist, lässt sich Loebner das nicht anmerken. Er habe eine | |
junge Freundin, sagt er beim Spaziergang. Und vor der Wohnungstür im | |
Obergeschoss, wo die Steintreppe endet, stehen Damenstiefel mit hohen | |
Absätzen. Alles Weitere ist privat. Die Loebner’schen Kaufmänner auf der | |
Treppe haben allerdings auch das im Blick. | |
Der letzte in der Bilderreihe ist übrigens Ingo Loebner selbst. Als wäre | |
sein Auftrag schon erfüllt, blickt auch der zwölfte der Loebners von der | |
Ahnentafel, die möglicherweise mit ihm nach mehr als 300 Jahren ihren | |
Abschluss findet. Neben seinem Porträt, dem letzten und obersten, ist kein | |
Platz mehr für weitere Rahmen. Ingo Loebner wirkt auf dem Foto recht | |
entspannt. | |
22 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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