# taz.de -- Bilanz der WM 2022 in Katar: Das Runde im eckigen Leben | |
> Der Partycharakter einer WM funktioniert auch in einer totalitären | |
> Monarchie. Als Problemlöser von Wertekonflikten ist der Fußball aber | |
> überfordert. | |
Bild: Emir Tamim Al-Thani freut sich beim Spiel gegen Senegal mit Familie über… | |
Berlin taz | Die Verlautbarungen der Qatar News Agency sind jedes mal ein | |
Schmankerl für Menschen mit Diktaturerfahrung. In Stil und Duktus der | |
„Aktuellen Kamera“ des DDR-Fernsehens nicht unähnlich, huldigt das | |
Verlautbarungsorgan der katarischen Herrscherfamilie Al-Thani täglich den | |
Taten ebenjener Al-Thanis, zuvorderst natürlich des Emirs [1][Tamim | |
Al-Thani], dem man auch im Nationalmuseum einen ordentlichen Schrein | |
gewidmet hat. Aber auch der „Emir-Vater“ und der „Emir-Vize“ werden | |
gewürdigt wie einst der Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei | |
Deutschlands und Vorsitzende des Staatsrates, na, Sie wissen schon. | |
Wer erfahren will, was Katar für ein Land ist und wie es tickt, dem wird | |
bereits nach wenigen Meldungen der Qatar News Agency klar: Katar ist eine | |
totalitäre Monarchie, die, wie damals die Diktatur des Proletariats, nach | |
Lob giert. | |
Alle Autokraten leiden an einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. In der DDR | |
zählte man nach jeden Olympischen Spielen die Medaillen zusammen, und | |
gewann der Ostblock mehr als der Westen, galt das als Beleg für die | |
Überlegenheit des Systems. Da Katar das schlechteste Team dieser WM aufs | |
Feld schickte, neigt man im Golfstaat dazu, die wirtschaftlichen und | |
logistischen Erfolge auszustellen. Ein Beispiel? Nun, im dritten Quartal | |
dieses Jahres hat das kleine Land mit den großen Bodenschätzen einen | |
Überschuss von 30 Milliarden Dollar erwirtschaftet. | |
„Der Staat Katar verankert sich mit der Ausrichtung einer außergewöhnlichen | |
Ausgabe der Weltmeisterschaft auf der internationalen Sportkarte“, schreibt | |
die Qatar News Agency. Das Heischen nach Anerkennung und Bedeutung kennt | |
keine Grenzen, auch das Herausstellen der eigenen Leistungen: „12 Jahre | |
Planung und Kreativität: Katar gewinnt die Wette und organisiert die beste | |
Ausgabe der Weltmeisterschaft“, schreiben die Regierungspropagandisten und | |
liefern damit eine Vorlage [2][für Fifa-Chef Gianni Infantino], die er | |
sicherlich in seine Abschiedsrede einbauen wird: „Das war die beste WM | |
aller Zeiten.“ | |
## Wo sind die Katarer in Katar? | |
Wie in Russland 2018. Der Fußballweltverband ist ja auch so ein | |
Zahlenhuber, der immer wieder Superlative und Rekorde bemüht, um seine | |
Einzigartigkeit zu betonen. Das erklärt auch die Nähe der großen | |
Sportverbände zu Staaten wie Russland, China, Aserbaidschan – oder Katar. | |
Katar war in diesen Wochen der WM aber auch ein Weltort, ein Melting Pot. | |
Mir sind Leute aus Pakistan, Nepal, Bangladesch, Indien und Sri Lanka, | |
Mexiko, den USA, Argentinien, Uganda, Kenia, Marokko und vielen anderen | |
Ländern über den Weg gelaufen. Die meisten WM-Gäste kamen aus | |
Saudi-Arabien, dem verfreundeten Nachbarstaat. Allein: Ich habe kein | |
einziges Gespräch mit einem echten Katarer geführt. Oder doch? | |
Ein Katar-Experte hatte mir dieses Szenario vor meiner Reise an den Golf | |
ausgemalt. Dort lebe man in getrennten Welten. Hier die Einheimischen, die | |
per Stammesrecht über Privilegien verfügen – und da das Heer der | |
Subalternen, der Zuarbeiter und Wohlstandssicherer, die sich mit 300 Euro | |
im Monat durchschlagen müssen. Ein Ständesystem, für dessen Ungerechtigkeit | |
man kein besonderes Gespür braucht. | |
Mag ja sein, dass Katar in vielerlei Hinsicht über den eigenen Schatten | |
gesprungen ist, die gesellschaftlichen Regeln, nach denen in Doha gespielt | |
wird, wurden während des Turniers nicht gebrochen. Es gibt, vereinfacht | |
gesagt, die da oben und die da unten. In der Mitte bewegten sich die | |
WM-Fans, zumeist auch keine armen Leute, die sich ihr Wüstenabenteuer schon | |
mal 10.000 Dollar kosten ließen: gut betuchte Mittelständler mit | |
Sombrero-Hut, dem neuesten Adidas-Nationalmannschafts-Shirt für 90 Euro | |
oder dem „Hymnen-Jäckchen“ für 120. | |
## Gute Logistik, volle Arenen | |
Sie feierten auf den Fanmeilen bis in die Puppen. Oft wurde die Party erst | |
mit dem Morgenruf des Muezzin beendet. Die hochmoderne Metro schubste | |
Millionen Menschen vom Lusail-Stadion nach Education City und zurück. Die | |
Logistik funktionierte ziemlich gut, die Auslastung der acht Arenen lag bei | |
über 90 Prozent, und OK-Chef Hassan Al-Thawadi wird noch weitere Belege | |
finden für ein „großartiges“ Turnier. | |
Katar hat sich die Reputation mit Milliarden von Petrodollars erkauft – und | |
sich während des Turniers gewundert, warum der Westen die Glitzerwelten der | |
West Bay und den Historismus des Souk Waqif, eines Marktplatzes in Doha, | |
nicht uneingeschränkt bewundert, sondern immer diese Fragen nach | |
Pressefreiheit, den Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter, dem | |
Antisemitismus und der Schikane gegen Schwule und Lesben stellt. Ansichten | |
über die Universalität der Menschenrechte sind in Katar auf ein | |
islamisch-tribalistisches Hausrecht gestoßen, das Emir Tamim Al-Thani | |
exekutiert, weil es aus den Wurzeln des Wüstensandes gewachsen sei. | |
Zuletzt erzürnte sich Katars Außenminister Mohammed bin Abdulrahman | |
Al-Thani in der Washington Post über kritische Beobachter, die eine andere | |
Meinung vertreten als die Katarer. Der Politiker wies in bester | |
Honni-Manier auf die freudigen Szenen von Fans hin, die gemeinsam in Doha | |
feiern, die positive Stimmung, die durch die Weltmeisterschaft im Nahen | |
Osten gefördert werde, und „auf die echten Arbeitsreformen“, die Katar in | |
den vergangenen Jahren implementiert habe: „Alle Reformen in den letzten | |
zwölf Jahren, die Katar beschlossen hat, wurden umgesetzt. Es wurde so | |
abgebildet, dass Katar einfach die Tatsache ignoriert, dass es ein Problem | |
gibt – was nicht der Fall ist.“ | |
Die Sicht auf Katar sei zu negativ und das sei enttäuschend, so Al-Thani. | |
Der Blick auf den WM-Ausrichter war hier und da nicht ohne Tendenz, gewiss, | |
aber Katar selbst provozierte den Widerspruch durch plumpes Beharren auf | |
der eigenen Sichtweise. | |
## Verwirrung um Todeszahlen | |
OK-Chef Al-Thawadi hatte in Turnierwoche zwei in einem Interview gesagt, | |
dass „zwischen 400 und 500“ Arbeiter [3][auf den Stadionbaustellen | |
umgekommen seien]. Das WM-OK präzisierte dann: Die Zahl liege bei 414, wies | |
aber im gleichen Atemzug darauf hin, dass sich Al-Thawadis Aussage auf alle | |
arbeitsbedingten Todesfälle in Katar zwischen den Jahren 2014 und 2020 | |
beziehe. Für die Stadionbaustellen hatte Fifa-Chef Infantino einmal die | |
Fake-Zahl von drei Toten verbreitet. Die katarischen WM-Organisatoren | |
hatten in der Vergangenheit auch von 37 Toten gesprochen, andere Quellen | |
zuvor von mehr als 6.500 oder gar 15.000 toten Gastarbeitern (Amnesty | |
International). | |
Den Wanderarbeitern, die in der sommerlichen Gluthitze Katars ihr Leben | |
riskieren, kam diese WM gelegen. Unter dem internationalen Druck | |
verbesserten sich ihre Arbeitsbedingungen: Das Kafala-System wurde de iure | |
abgeschafft, ein Mindestlohn festgelegt. Und die Erfolge der argentinischen | |
Mannschaft kamen bei den Männern aus Bangladesch oder Nepal besonders gut | |
an. | |
Sie liefen in Scharen im hellblau-weißen Trikot herum, feierten, da der | |
karge Lohn nicht für einen Stadionbesuch reichte, auf den Fanmeilen mit. | |
Für sie war die WM ein willkommenes Intermezzo im Einerlei der Arbeitstage, | |
auch wenn das Niveau dieses Championats überschaubar war. Es gab nur wenige | |
Partien, die einer Champions League würdig gewesen wären: Der | |
Ballbesitzfußball scheint an seine Grenzen zu stoßen, mehr denn je sind | |
taktische Flexibilität gefragt und die Geistesblitze [4][von | |
Heldenfußballern]. | |
Das Sportliche ist das eine, das andere seine Einbettung in die Politik, | |
und da endete ebenjener Universalismus der Menschenrechte dort, wo Emir | |
Tamim Al-Thani sich auf kulturelle und religiöse Identität berief: ein | |
nicht zu lösender Konflikt. Vom Fußball wurde das Unmögliche verlangt: dass | |
der Sport all die Widersprüche nicht nur aufzeigt, sondern auch versöhnt. | |
Dass Politik und Wirtschaft dem Unterhaltungsbusiness die Aufgabe der | |
Weltverbesserung aufgebürdet haben, während sie ungestört ihre Geschäfte | |
machten, ist nur ein Doppelstandard, der die Ankläger pharisäerhaft wirken | |
ließ. | |
Aber nach zwei Wochen war auch das vergessen. [5][Denn spielte Messi nicht | |
groß auf?] Die normative Kraft des Faktischen, der puren Unterhaltung, ist | |
groß. Sie darf aber nicht zum Motor von Staatspropaganda werden. Und sollte | |
die Qatar News Agency auch noch so sehr die Trommel der Al-Thanis rühren: | |
Der Ball ist rund, aber das echte Leben eckig. | |
16 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Vor-der-Fussball-WM-in-der-Wueste/!5894077 | |
[2] /Bizarre-Rede-von-Fifa-Chef-Infantino/!5894100 | |
[3] /Arbeitsbedingungen-in-Katar/!5893489 | |
[4] /Messi-und-Ronaldo-dominieren-die-WM/!5899030 | |
[5] /Argentiniens-WM-Sieg-gegen-Kroatien/!5899161 | |
## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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käuflich. |