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# taz.de -- Bizarre Rede von Fifa-Chef Infantino: Der multiple Präsident
> Fifa-Chef Infantino reagiert auf die geharnischte Kritik an der WM. Er
> zeigt schrill Empathie, kritisiert Doppelmoral und gibt sich als
> Vermittler.
Bild: Gianni Infantino hält sich seine Welt recht kreativ zusammen
„Aber ja doch“, sagt Gianni Infantino, „ich bin auch eine Frau, mein
Fehler.“ Ein Journalist wies den Fifa-Präsidenten darauf hin, dass die
multiple Persönlichkeit, die er vorgab zu besitzen, noch vielgestaltiger
ist.
Gut 50 Minuten vor dieser Richtigstellung hatte der Schweizer in einem
schweren Pathos-Anfall vor Journalisten im großen Saal des Medienzentrums
zu Doha gesagt: „Ich habe heute sehr starke Gefühle, ich fühle mich als
Katarer, als Araber, als Afrikaner, als Schwuler, als Behinderter, [1][als
Wanderarbeiter].“ Giovanni Vincenzo Infantino, 52, der von allen einfach
Gianni genannt wird, bestimmt wegen seiner aufdringlich jovialen Art, hatte
mal wieder einen dieser Momente, in denen er von der Bühne herab zur Welt
spricht, betont langsam und schmalzig.
Der Impulsvortrag dauerte fast eine Stunde, und man merkte, dass sich in
Infantino etwas angestaut hat.
Zu lange habe er sich zurückgehalten, sagt er, sei sehr ruhig gewesen:
„Also habe ich jetzt gedacht, es wäre wichtig, euch alle zu treffen.“
Ruhig? Nun ja. Ein rührseliger Werbespot über das Leben von Infantino läuft
auf den Flügen von Qatar Airways und als Trailer bei bei „Sports“, dem
katarischen Sender. Und bereits am Vortag saß der Fifa-Hansdampf als
Überraschungsgast auf dem Podium der Schiedsrichter-Pressekonferenz neben
Pierluigi Collina und annoncierte die beste WM aller Zeiten, mit den besten
Emotionen aller Zeiten.
## Geschichten aus der Kindheit
Die Medien, scherzte er bei dieser Gelegenheit, sollten bei aller Kritik
auch mal seinen Laden „loben“. Da steckte Infantino noch in einem
Fifa-Trainingsanzug. Einen Tag später trägt er den schwarzen Anzug des
Hauses mit blauem Schlips auf weißem Hemd. Die Glatze ist frisch gewienert,
die Augen blitzen verschwörerisch.
Nur am Anfang, als noch kein Wort gesprochen ist, wirkt Infantino
angespannt. Logisch, [2][die Kritik, die auch die Fifa wegen der
Menschenrechtslage in Katar trifft,] wegen des Umgangs mit seinen
Wanderarbeitern, ist geharnischt. Der Fifa-Chef geht strategisch vor:
Empathie und Solidarisierung steht über dem ersten Kapitel seiner Rede. Er
erzählt seine Geschichte als italienisches Einwandererkind, als „Secondo“
in der Schweiz. „Meine Eltern haben auch unter harten Bedingungen
gearbeitet.“
Die Eltern, der Vater stammte aus Reggio Calabria in Süditalien, arbeiteten
im Bahnhof der schweizerischen Kleinstadt Brig: Infantinos Vater als
Verkäufer und Schlafwagenschaffner, seine Mutter im Bahnhofskiosk. In der
Schule sei der kleine Gianni gemobbt worden, wegen der roten Haare und
seiner anfangs schlechten Deutschkenntnisse. „Man zieht sich zurück und
weint – und dann sucht man Freunde.“
Nachdem Infantino versucht hat, eine Brücke zu bauen von seinem eigenen
Leben zu dem der Wanderarbeiter, beginnt Teil zwei des Vortrags: Belehrung
und Zurechtweisung. „Es ist schade, dass wir in den vergangenen Wochen mit
viel Heuchelei und Doppelmoral konfrontiert worden sind, vor allem von den
Europäern“, sagt er. „Bevor wir anderen Lektionen erteilen, sollten wir uns
für 3.000 Jahre Geschichte weitere 3.000 Jahre entschuldigen.“
Es gebe dort, so kann man ihn verstehen, wo die Hypermoral so prächtig
gedeiht, genug Dreck vor der eigenen Haustür, um den man sich kümmern
sollte, es werde zu wenig differenziert. Infantino führt die prekäre Lage
von Behinderten und Flüchtlingen an. „25.000 von ihnen sind seit 2014 wegen
der europäischen Migrationspolitik gestorben.“ Infantino blickt
bedeutungsschwanger ins Publikum und fragt dann: „Ist deren Leben nicht
genauso viel wert?“ Katar [3][habe den Wanderarbeitern] indes legale Wege
eröffnet, ins Land zu kommen und Geld zu verdienen.
## Zynische Anmaßung
Für den Arbeiter aus Nepal, Bangladesch oder Sri Lanka, der manchmal
monatelang auf seinen kargen Lohn warten muss, der sich ein Zimmer mit acht
anderen teilt, der zehn Stunden täglich in der Hitze schuftet, klingt das
zynisch. Infantino aber sagt: „Ich verstehe die Art der Kritik nicht, die
Medien haben die Verbesserung der Arbeitsbedingungen nicht zur Kenntnis
genommen.“ Stattdessen würden sie immer nur „draufhauen“ auf Katar. „M…
Anklagen und Verurteilung erreicht man aber nichts, mit Dialog schon.“
Das dient ihm als Überleitung zum dritten und letzten Teil der Rede: Makeln
und Interessenausgleich. Der Fußballweltverband erscheint nun als
Vermittler, der die Welt ein bisschen besser machen möchte. „Druck ist
negativ, Engagement ist positiv.“ Man mag Infantino einiges nachsagen, ein
Reaktionär ist er sicherlich nicht. Diese Sicht der Dinge versucht auch
Fifa-Medienchef Bryan Swanson zu vermitteln, der nach der Rede Infantinos
das Wort ergreift und sich als schwul outet. „Die Fifa ist inklusiv, und
wenn Gianni Infantino das sagt, dann meint er das auch“, sagt der Schotte,
der 2021 vom TV-Sender Sky zum Fußballweltverband gewechselt ist.
Beim Sultan von Brunei hat Swansons Chef versucht, das Fußballverbot für
Mädchen zu kippen. Infantino geht bei Monarchen, Autokraten und Diktatoren
aus und ein, nicht nur, um günstig an einen Flug im Privatjet von Emir
Tamin Al Thani zu kommen, sondern auch, um ein bisschen über Wandel zu
sprechen. „Aber dieser Wandel braucht Zeit“, sagt er in Doha. „Draufhauen
ist dabei kontraproduktiv, das wird als Provokation aufgefasst.“
Infantino muss in der Fifa mit allen möglichen „Weltproblemen“ umgehen, wie
es der Schweizer Fifa-Insider Mark Pieth einmal gesagt hat, mit krassen
Demokratiedefiziten, einer Bakschisch-Mentalität, mit ultrakonservativen
Ansichten, die in Europa nicht mehr vermittelbar sind. Und obgleich die
Fifa nicht die „Weltpolizei“ sei, auch nicht „die UNO oder die Blauhelme�…
habe sich seine Organisation die Verteidigung der Menschenrechte auf die
Fahne geschrieben, „wir tun es nur auf unsere Weise“.
Was ist er nun, dieser Gianni Infantino? Makler oder Mauschler? Pragmatiker
oder Schönfärber? „Es ist nicht richtig, den Fußball für andere Zwecke zu
missbrauchen“, sagt er. Sein höchster Zweck ist ohnehin Wachstum und
Umsatzsteigerung. Das ist das Bezugssystem des Aufsteigers, der so gern die
Rolle des Conférenciers spielt.
Unter seiner Ägide prosperiert die Fifa. Die Rücklagen sind auf über drei
Milliarden Euro angewachsen. Die Katar-WM bringt ein Plus von 600 bis 700
Millionen gegenüber dem letzten Championat. 1,75 Milliarden Dollar gingen
in den vergangenen drei Jahren an die 211 Mitglieder. 48 Länder starten in
die nächste WM. Infantino selbst genehmigt sich ein Gehalt von etwa 2,5
Millionen Euro. „Die Fifa“, sagt er, „ist keine Diktatur, wo der Präside…
alles entscheidet, wir suchen nach guten Kompromissen.“ Die Suche dauert
immer noch an.
20 Nov 2022
## LINKS
[1] /Arbeitsbedingungen-in-Katar/!5893489
[2] /Beginn-der-Fussball-WM-in-Katar/!5892423
[3] /Arbeitsmigrant-ueber-Katar/!5893487
## AUTOREN
Markus Völker
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