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# taz.de -- Gewerkschaftsarbeit in der Ukraine: Arbeitsrecht im Schatten des Kr…
> Gewerkschafter in der Ukraine beklagen Benachteiligung, Einschüchterung
> und den Missbrauch des Kriegsrechts. Sie hoffen auf den Einfluss Europas.
Bild: Harte Arbeit an der Werkbank: ein Mann in einer Fabrik in Dnipro, Juni 20…
Dnipro taz | Alexej Simwolokow und Anatolij Prischedko haben sich für ein
paar Stunden einen Büroraum angemietet. Ein Gast aus dem fernen Deutschland
ist da. Reis, Fleisch, Kuchen und Plastikgabeln liegen auf dem Tisch. Dem
Büroraum, in dem nichts steht außer einem Tisch und drei Stühlen, fehlt
jeglicher Charme, die Sirene des Luftalarms, die immer wieder von draußen
aus der nachmittäglichen Dunkelheit zu hören ist, tut ihr Übriges.
Auch die Perspektiven der ukrainischen Gewerkschaften lassen keinen
Optimismus aufkommen. Simwolokow und Prischedko sind in der in Dnipro
tätigen „Freien Gewerkschaft Spartak“ aktiv. Ihre Mitglieder haben sie in
Betrieben und Krankenhäusern vor Ort. Alexej Simwolokow war lange als
Dreher bei Dnepropres, einem Unternehmen der Schwerindustrie, tätig,
Anatolij Prischedko ist Gabelstapelfahrer bei Interpipe.
„Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll“, beginnt Simwolokow das
Gespräch. Er kommt gerade von einer Gerichtsverhandlung, bei der über eine
Klage seines Kumpels Prischedko gegen seinen Arbeitgeber verhandelt wurde.
„Die gute Nachricht ist“, so Simwolokow, „das Gericht hat ihm recht
gegeben.“ Sein Kollege, so habe das Gericht festgestellt, sei gegenüber
seinen Arbeitskollegen benachteiligt worden und deswegen erhalte er nun
eine schöne Lohnnachzahlung.
Die schlechte Nachricht jedoch sei, dass das Gericht die Begründung
geändert habe. Im Gegensatz zur ersten Instanz habe es nicht mehr
festgehalten, dass die Minderzahlung von monatlich 100 Euro nur wegen der
Mitgliedschaft in der Gewerkschaft erfolgt sei. „Und mir ging es nicht in
erster Linie um mehr Geld“, erklärt Prischedko. „Ich habe gegen meine Firma
geklagt, weil ich mich dagegen wehren will, dass ich nur wegen meiner
Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft benachteiligt werde“, so Prischedko
zur taz.
## Gesetzesänderungen erschweren Gewerkschaftsarbeit
Prischedko war lange in der betriebseigenen Gewerkschaft gewesen, hatte vor
zwei Jahren jedoch die Gewerkschaft gewechselt, war zur „Freien
Gewerkschaft Spartak“ gegangen. Und damit hatten die Probleme in seiner
Firma begonnen. Die Firmenleitung habe immer wieder auf ihn Druck ausgeübt,
diese Gewerkschaft wieder zu verlassen. So hatte man ihn beispielsweise als
Brigadier abgesetzt. „Aus Rache“, meint er.
Und als am 1. Juni 2021 alle seine Kollegen eine Gehaltserhöhung von 100
Euro bekommen hatten, war die Gehaltserhöhung bei ihm und einem weiteren
Kumpel der „Freien Gewerkschaft Spartak“ beträchtlich niedriger
ausgefallen.
Gewerkschaftsarbeit, so Simwolokow, sei in der jüngsten Zeit schwerer
geworden. Im Sommer hatte das Parlament einige Änderungen an der
[1][Arbeitsgesetzgebung] vorgenommen. Nun erlaube Artikel 43,1 der
ukrainischen Arbeitsgesetzgebung, dass Mitglieder einer Gewerkschaft
entlassen werden dürfen, ohne dass hierzu das Einverständnis der
Gewerkschaft eingeholt werden müsse.
Lediglich bei der Entlassung von gewählten Mitgliedern eines
Gewerkschaftsorgans müsse die Gewerkschaft zustimmen. Es wurden auch
Änderungen eingeführt, die Arbeitnehmer von kleineren Betrieben gegenüber
ihren Kollegen in großen Betrieben diskriminieren.
## Angst, die Arbeit zu verlieren
Wütend mache ihn die Haltung von Arbeitgebern und deren
Interessenvertretern im Parlament, der Werchowna Rada, die zwar
Lippenbekenntnisse zur Europäischen Union ablegen, in Wirklichkeit aber
skrupellose Gesetze verabschieden, die in direktem Widerspruch zu den
Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft stehen, wie Redefreiheit,
Gewissensfreiheit, Vereinigungsfreiheit – und die Grundsätze, die in der
Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte und in mehreren Konventionen des
Völkerrechts verankert sind, missachten.
„Meine Kollegen sind alle verängstigt“, erklärt Prischedko, deswegen wolle
sich auch kaum jemand in der Gewerkschaft betätigen. Denn jederzeit könne
ein Mitarbeiter beurlaubt werden. Und das heiße, man müsse zu Hause
bleiben, erhalte nur zwei Drittel des Lohns. Alle hätten Angst, ihre Arbeit
zu verlieren.
Die Pandemie und nun der Krieg erschwerten Gewerkschaftsarbeit sehr, so
Simwolokow. „Formal haben wir immer noch die Vorschriften der Pandemie“, so
Simwolokow. „Und das heißt zum Beispiel, dass Gerichtsverhandlungen nicht
öffentlich sind. Nur Kläger, Beklagte und Anwälte dürften an der
Verhandlung teilnehmen.“ Wenn jedoch die Firma eine Versammlung abhalte,
halte sich keiner an die Vorschriften der Pandemie. Auch im öffentlichen
Verkehr sieht man niemanden mit Maske.
Gleichzeitig dürfe man im Kriegsrecht nicht demonstrieren und nicht
streiken. Früher hätten bei derartigen Gerichtsverhandlungen immer Kollegen
vor dem Gebäude gestanden und hätten Plakate hochgehalten. Heute sei das
verboten, wegen des Krieges. „Alles, was uns an Möglichkeiten einer
Öffentlichkeitsarbeit bleibt, sind Online-Veranstaltungen und
Gerichtsverhandlungen“, resümiert Simwolokow traurig.
## Europa könnte helfen
Hoffnung setzen beide auf Europa, in zweifacher Hinsicht. „Ich kann mich
noch gut an die Zeit erinnern, als die [2][Visafreiheit in die EU]
eingeführt worden war“, berichtet Simwolokow. Da hatten sich die Firmen in
Dnipro geradezu überboten mit attraktiven Lohnerhöhungen, hatten sie doch
Angst, dass die guten Fachleute nach Europa gehen. Doch jetzt sei das
vorbei, im Kriegsrecht dürfen die meisten [3][Männer das Land gar nicht
verlassen]. „Und schon sind die Löhne wieder runtergegangen.“
Aber auch in anderer Hinsicht ist Europa für ihn ein Hoffnungsschimmer.
„Ich hoffe sehr, dass sich die Ukraine in ihrer Arbeitsgesetzgebung an der
entsprechenden Gesetzgebung in Europa orientiert. Dann können wir wieder
effektiv die Rechte der arbeitenden Bevölkerung verteidigen, werden wir
wieder ein reales Recht auf Streiks haben“, so Simwolokow.
12 Dec 2022
## LINKS
[1] /Arbeitgebergesetz-in-der-Ukraine/!5869523
[2] https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/270142/analyse-eu-visalib…
[3] /Kriegsdienstverweigerer-in-der-Ukraine/!5881494
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Arbeitnehmerrechte
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Protest
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