| # taz.de -- Proteste in Iran: Frau Leben Freiheit | |
| > Seit Jahren stehen die iranischen Frauen an vorderster Front gegen das | |
| > unterdrückerische Regime. Der Westen darf ihrem Kampf nicht tatenlos | |
| > zusehen. | |
| Der zentrale Protestslogan seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa Jina Amini im | |
| Polizeigewahrsam lautet „Frau, Leben, Freiheit“. Das ist alles andere als | |
| ein Zufall. Denn die Feindschaft gegen Frauen gehört von Beginn an zu den | |
| politischen Grundpfeilern der Islamischen Republik Iran. „Wenn die | |
| islamische Revolution kein anderes Ergebnis haben sollte als die | |
| Verschleierung der Frau, dann ist das per se genug“, hat Revolutionsführer | |
| Ruhollah Chomeini einst gesagt. | |
| Nur wenige Tage nachdem der Ajatollah seinen Fuß auf iranischen Boden | |
| gesetzt und die Regierung des letzten Monarchen gestürzt hatte, erhob er | |
| das Schwert seiner Revolution als Erstes gegen die Frauen. Fast alle | |
| Gesetze, die zum Schutz der Frau verabschiedet worden waren, sollten seiner | |
| Idee des Islam zum Opfer fallen. Zum ersten Mal in der iranischen | |
| Geschichte waren Ehescheidungen bis zu diesem Zeitpunkt Sache von | |
| Familiengerichten mit staatlich examinierten Richtern anstelle von | |
| Geistlichen. | |
| Die männliche [1][Polygamie] wurde auf eine Zweitfrau begrenzt. Das Recht | |
| der Frau auf Arbeit wurde gefördert, bezahlter Mutterschaftsurlaub und | |
| Kinderbetreuung wurden ermöglicht. Die Geistlichkeit verurteilte damals | |
| diese Gesetze als „Prostitutionsförderung“ und prophezeite moralischen | |
| Verfall. Linke Parteien und Gruppen kritisierten die Gesetze als | |
| „Verwestlichung“ des Iran. | |
| Klerus und Linke setzten gemeinsam die Revolution in Gang. „Die Freiheit | |
| der Frau ist die Freiheit der Gesellschaft“, stand dagegen auf den Bannern | |
| jener Iranerinnen, die 1979 protestierten: gegen die neuen islamischen | |
| Bekleidungsvorschriften, gegen den Verlust zahlreicher Rechte. Irans Frauen | |
| waren die größten Verliererinnen der Revolution. | |
| Chomeini setzte das Heiratsalter für Mädchen auf neun Jahre herab. Männer | |
| konnten wieder vier Frauen heiraten, und Richterinnen gehörten fortan der | |
| Vergangenheit an. Wer in der Schule aus dem Rahmen fällt, muss gehen. Im | |
| Laufe der Jahrzehnte konnte ein kleiner Handspiegel in der Tasche, weiße | |
| Sportsocken, ein Haarreif unter dem obligatorischen Kopftuch oder eine | |
| hervortretende Haarsträhne zu Diskriminierung und Ausschluss führen. | |
| ## Verschmelzung von Regierung und Religion | |
| Das Hauptproblem der Iranerinnen war nicht der Islam, der je nach Zeit und | |
| Ort anders interpretiert wird, sondern die Natur der Islamischen Republik: | |
| ein „theokratisches System, erschaffen aus der politischen und gesetzlichen | |
| Verschmelzung von Regierung und Religion“. Der theokratische Staat kann mit | |
| seinen Erzfeinden in Verhandlungen treten – nicht aber mit den Iranerinnen. | |
| Die politischen Machthaber haben mehr Angst vor den Frauen als vor ihren | |
| ideologischen Gegnern. | |
| Über die Frau kontrolliert das Regime die Gesellschaft. „In rechtlicher | |
| Hinsicht sind die Frauen die größten Leidtragenden im über 40 Jahre | |
| währenden Experiment der Islamischen Republik“, bringt es die iranische | |
| Anwältin und Menschenrechtlerin Mehrangiz Kar auf den Punkt. Wenn es | |
| tatsächlich einen tiefgreifenden Wandel im Iran geben sollte, wird er auf | |
| die Frauen zurückgehen, die Jahrzehnte dafür Opfer brachten, ohne sich | |
| einschüchtern zu lassen. | |
| Frauen stehen an vorderster Front des Widerstands gegen das Unrecht. Sie | |
| stehen der Machtelite gegenüber. Sie haben das Regime in seinem Wesen | |
| kennengelernt – und an einem bestimmten Punkt innerlich überwunden. Das | |
| macht ihre Stärke aus. Eine Stärke, hinter der sich jetzt große Teile | |
| speziell der jüngeren Generation versammeln. | |
| Dass der Westen diesen ungemeinen Unmut, diese Wut im Lande nicht viel | |
| früher erkannte und darauf adäquat, nämlich mit harter Kritik am Regime, | |
| reagierte, hat zwei Gründe, einen außen- und einen eher innenpolitischen. | |
| Außenpolitisch ist es die – durchaus berechtigte – Angst vor einer | |
| iranischen Atombombe, die jede Debatte im Westen über die Menschenrechte im | |
| Iran seit Jahren lähmt. [2][Das Nuklearabkommen] steht im Fokus. | |
| Die Verhandlungen darüber sind inzwischen so alt sind wie die Generation, | |
| die jetzt auf die Straßen geht und der ein solches Abkommen im Übrigen | |
| vollkommen gleichgültig ist. Innenpolitisch war es dagegen die | |
| Unterscheidung zwischen angeblichen „Reformern“ und „Hardlinern“, die es | |
| dem Regime seit Jahrzehnten ermöglichte, dem Rest der Welt die Illusion | |
| einer lebendigen Demokratie zu vermitteln – mit vermeintlichen seriösen | |
| Machtwechseln und Millionen von Wählern. | |
| ## Gottessouveränität vor Menschensouveränität | |
| Die Islamische Republik Iran ist ein zweigeteilter Staat, in dem gewählte | |
| Institutionen die täglichen Staatsgeschäfte verwalten – im Schatten des | |
| weitaus mächtigeren Obersten Führers. Dieser hat erhebliche Macht, aber | |
| eine geringe Rechenschaftspflicht, er kann jede Verantwortung auf Gewählte | |
| – sprich: auf den Präsidenten – abwälzen. | |
| Eine der Hauptsäulen seiner Macht sind die [3][Revolutionsgarden], die, wie | |
| sie selbst sagen, genau wissen, was sie dem Führer bringen müssen, wenn er | |
| nach einem Hut verlangt: einen Kopf. Die Revolutionsgarden zerschlagen | |
| Massenproteste, beugen einem militärischen Staatsstreich vor, sie haben | |
| eine korrupte Schattenwirtschaft aufgebaut und eine Medienholding | |
| gegründet, mit der sie ihre Propaganda in erstaunlich modernem Gewand | |
| unters Volk bringen. | |
| Wir aber tun immer noch so, als stünden sich im Iran liberal-progressive | |
| und illiberal-reaktionäre Machtgruppen diametral gegenüber. Wir tun immer | |
| noch so, als würde unsere Unterstützung der Reformer die Demokratisierung | |
| des Iran herbeiführen. Und wir haben uns immer noch nicht mit der | |
| eigentümlichen Inkonsistenz ihres Reformprojekts beschäftigt, geschweige | |
| denn die Verfassung der Republik verstanden. | |
| Die Diktatur der Rechtsgelehrten stellt Gottessouveränität vor | |
| Menschensouveränität. Sie beansprucht die einzig wahre Interpretation des | |
| Islam. Sie legitimiert politisch motivierte Gewalt. Sie lässt keine | |
| Trennung zwischen Staat und Religion zu. Diese Ordnung ist seit 1979 | |
| weitgehend reformunfähig – ungeachtet aller „Reformer“. | |
| ## „Staub und Schmutz“ | |
| Die letzte Hoffnung der Reformer war die sogenannte [4][Grüne Bewegung von | |
| 2009], als Millionen auf die Straße gingen, um friedlich – und vergeblich – | |
| gegen die manipulierte Wiederwahl Ahmadinedschads zu protestieren. 2009 | |
| markierte eine Wende, ein Jahr der Wahrheit. Tausende fragten auf der | |
| Straße nach dem Verbleib der Stimmen von Millionen von Bürgern. | |
| Ahmadinedschad verwendete den Begriff „Staub und Schmutz“, um die drei | |
| Millionen Menschen zu beschreiben, die in einem Schweigemarsch in Teheran | |
| gegen die Wahlfälschung protestiert hatten. Für ihn waren sie schlechte | |
| Verlierer des gegnerischen Lagers. Waren es am Ende siebzig, achtzig oder | |
| hundert Todesopfer? | |
| Tausende wurden festgenommen, viele Verhaftete in politischen | |
| Schauprozessen verurteilt, und ihre absurden, weil erzwungenen Geständnisse | |
| wurden im Staatsfernsehen ausgestrahlt. Doch auch damals zögerte der | |
| Westen, an der Spitze US-Präsident Barack Obama, die iranischen | |
| Demonstranten von 2009 anzuerkennen und sich von Anfang an mit klaren | |
| Worten auf ihre Seite zu stellen. | |
| Im Juni 2021 wählte der Machtkern des Regimes mit dem Geistlichen Ebrahim | |
| Raissi einen loyalen Soldaten zum Präsidenten – einen ehemaligen | |
| Justizchef, der Todesurteile schnell und effektiv ausgestellt hatte und der | |
| nun als Präsident den Willen des Obersten Führers exakt und prompt umsetzt. | |
| Immerhin: Nach den sogenannten Präsidentschaftswahlen von 2021 hat der | |
| Machtkern endlich sein wahres Gesicht gezeigt und die Täuschungsmanöver | |
| Richtung Westen eingestellt. | |
| ## Drohungen, Psychoterror und Gewalt | |
| Der ehemalige Revolutionsrichter war in den ersten Jahren nach der | |
| Revolution für die Hinrichtung von mindestens fünftausend politischen | |
| Gefangenen mitverantwortlich, für den größten Massenmord in der Geschichte | |
| des Iran. Und wieder schwieg die EU, schickte gar einen hochrangigen | |
| Gesandten zu Raissis Amtseinführung und signalisierte Bereitschaft, mit der | |
| neuen Regierung zusammenzuarbeiten. | |
| Die neue Regierung trieb das Projekt der „Re-Islamisierung“ voran mit immer | |
| weiteren Kontrollen der Sittenwächter auf den Straßen. Was [5][Mahsa Jina | |
| Amini] widerfuhr – eine Geschichte, die von Drohungen, Psychoterror und | |
| Gewalt erzählt –, ist eine Geschichte, die iranische Familien millionenfach | |
| selbst erlebt haben: die Sorge vor dem Verschwinden der Töchter; die | |
| Demütigung, wenn Eltern ihre Kinder von der Wache abholen müssen; die | |
| Angst, dass Kinder hinter Gittern landen, wenn sie sich zur Wehr setzen, | |
| oder Schläge und Peitschenhiebe erdulden müssen. | |
| All dem zum Trotz wurde der Iran im April 2021 erneut in die | |
| Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen gewählt – ein Gremium, das | |
| sich weltweit um Geschlechtergleichheit und die Förderung von Frauen | |
| bemühen soll. Auch wenn die Welt und speziell der Westen schweigt: Die | |
| Frauen im Iran lassen sich [6][nicht mehr mit der Hoffnung auf angebliche | |
| Reformen vertrösten]. Sie wissen, dass für das Regime die Kontrolle über | |
| den weiblichen Körper die Kontrolle der gesamten Gesellschaft bedeutet. | |
| Ob sich der Westen seiner Verantwortung bewusst ist, ein Zeichen der | |
| Solidarität an die Iranerinnen zu senden, Menschenrechtsverletzungen offen | |
| anzuprangern und Unterdrückung zu erkennen und zu verurteilen, ist die | |
| eigentliche Frage. Mittel stehen zur Verfügung: die Vereinten Nationen, die | |
| Rechtswege des Haager Tribunals, des Internationalen Strafgerichtshofes und | |
| der UN-Menschenrechtsrat. | |
| Jetzt gilt es, die Islamische Republik vor den Augen der Welt zur | |
| Rechenschaft zu ziehen für die massiven Verbrechen gegen die | |
| Menschlichkeit. | |
| Dieser Text erschien in längerer Fassung in der November-Ausgabe der | |
| „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (www.blaetter.de). | |
| 19 Nov 2022 | |
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