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# taz.de -- Debatte um Klimaproteste: Extremistisches Weiter-so
> Nicht die Kartoffelbreiwerfer und Straßenblockierer sind extremistisch,
> sondern die Verteidiger des Status quo.
Bild: Ein Aktivist der „Letzten Generation“ am Mittwoch in Rom
Als junger Verleger brachte ich 1991 ein Büchlein mit dem Titel
„Extremismus, Radikalismus, Terrorismus in Deutschland. Zur Geschichte der
Begriffe“ von Susanna Böhme-Kuby heraus – eine wissenschaftliche Analyse
der Instrumentalisierung und selektiven Nutzung aufgeladener Begriffe im
politischen Diskurs. Wenig später fragte mich ein Wissenschaftler, mit dem
ich über einen Sammelband verhandelte, wieso ich verfassungsfeindliche
Literatur verlegen würde. Er zeigte mir eine Liste indizierter Bücher, auf
der sich dieser Titel befand. Offensichtlich war das Nachdenken über die
Verwendung des Begriffs Extremismus schon extremistisch.
In den letzten Wochen erlebt der Begriff eine Konjunktur. Zunächst wurden
wir von Politik und Medien vor extremistischen Reaktionen der Bevölkerung
gewarnt. Schon die Vorstellung von massenhaften Demonstrationen weckte den
inneren Philister in manch einem menschlichen Warndreieck. Dann erlebten
wir [1][extremistische Gewalttaten von unvorstellbarer Verwerflichkeit],
die angeblich „große moralische Fragen“ aufwerfen: die Proteste von
Klimaaktivistinnen. Sofort war die heilige Trinität der rechtschaffenen
Empörung zur Hand: Extremismus, Radikalismus und Terrorismus.
Ein Beispiel unter unzähligen: Der FDP-Bundestagsabgeordnete [2][Frank
Schäffler] twitterte unter dem Eindruck diverser beworfener Gemälde
aufgeregt: „Dieser Terrorismus ist das eine. Die Verschwendung von
Lebensmitteln ist das andere.“ Ein Höhepunkt unfreiwilliger Tragikomik. Die
einmalige Nutzung von Kartoffelbrei zu außerkulinarischen Zwecken ist
zweifellos das schlimmste Beispiel von Verschwendung in einem System, das
bis zu 40 Prozent der Nahrungsmittel vergammeln lässt oder wegwirft.
Für Herrn Schäffler ist das faule Ei, mit dem manche ihn gern bewerfen
möchten, bestimmt schlimmer als die Millionen Tonnen Essen, die hierzulande
auf dem Müll landen. Denn wir verbrauchen Boden, Luft, Wasser und Energie
ohne Sinn und Verstand. Um dies zu bekämpfen, geben wir dem Problem einen
schicken Namen: Food Waste, und unternehmen nichts Wirkungsvolles. Aber für
Herrn Schäffler ist der Ist-Zustand – vermute ich – weder Terrorismus noch
Verschwendung, sondern das gute Funktionieren des freien Marktes.
Nun stellt sich die Frage, was extremistischer ist: Das Bewerfen eines
verglasten Bildes mit Suppe oder die giftige Suppe aus Verschwendung,
Zerstörung und Klimakatastrophe, die uns der Wachstumswahn eingebrockt hat?
Was ist extremistischer: dagegen aufzubegehren, für eine lebenswerte,
würdevolle Zukunft, oder die verkrampfte Verteidigung des Status quo und
die rigorose Ablehnung selbst der kleinsten Verbesserung (etwa beim
Fleischkonsum: Tierhaltung macht mindestens [3][16,5 Prozent der globalen
CO2-Emissionen] aus).
Wer genauer hinschaut, entdeckt in der viel beschworenen Mitte unserer
Gesellschaft einen extremistischen Wahn des Weiter-so. Und wir haben nur
die tragische Wahl zwischen einer extremistischen Mitte und dem Extremismus
der Rechten.
Ähnlich [4][moralisch blindwütig wurde auf den tragischen Tod einer
Radfahrerin] in Berlin reagiert. Die große moralische Frage ist offenbar
nur, inwieweit der Protest daran Schuld hatte, weitaus weniger aber, wieso
unzählige Radfahrerinnen im Straßenverkehr unter die Räder kommen, und auch
nicht, dass jedes Jahr in der EU laut der Europäischen Umweltagentur
Hunderttausende Menschen wegen Feinstaubbelastung und anderer Schadstoffe
vorzeitig sterben. Mehr als die Hälfte dieser Menschen könnten noch leben,
wenn wir [5][die Richtwerte der WHO] einhalten würden. Feinstaub ist
vernünftig und notwendig, Protest hingegen frivol und unnötig, weswegen
laut einer Umfrage des Spiegel 86 Prozent der Befragten finden, dass die
Klimaaktivistinnen zu weit gehen.
## Konträres Denken
Die extremistische Mitte behauptet gern, sie vertrete den gesunden
Menschenverstand. Gegen Spinnerei und Utopismus und Weltfremdheit. Der
Zusatz „gesund“ impliziert, dass konträres Denken „krank“ ist, daher
abzulehnen und sogar zu verteufeln. Das englische common sense wäre
geeigneter, zu übersetzen mit Hausverstand, also das, was jeder unter dem
Dach seines eigenen Schädels finden könnte, wäre er nicht Opfer einer
extremistischen Ideologie.
Machen wir die Probe aufs Exempel: Welcher philosophische Gigant des
Weiter-so hat Folgendes gesagt: „Wachstumsfreundliche Politik ist die
Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit“? Übersetzt bedeutet dies: Wir
müssen die Natur noch mehr zerstören, um die Würde des Menschen zu
gewährleisten. Die Antwort lautet: Christian Lindner – merkwürdigerweise
vom Verfassungsschutz nicht indiziert, im Gegensatz zum Mesopotamien
Verlag, der Bücher publiziert über so extremistische Themen wie Demokratie,
Geschlechterbefreiung und Ökologie.
Wer aber [6][das 1,5-Grad-Ziel] ernst nimmt, wem klar ist, was für ein
unfassbares Leid das weitere Schmelzen der Gletscher und das Verdursten der
Welt nach sich ziehen werden, wer begriffen hat, dass die fossilen
Rohstoffe in der Erde bleiben müssen, für den ist die FDP extremistischer
als die – sagen wir mal – PKK.
## Diktum Alternativlosigkeit
Extremismus heißt: starrer Herrschaftsanspruch. Beharrt auf eingefleischte
Privilegien. Beispiel: Ein reicher Deutscher emittiert in etwa tausendmal
mehr CO2 als der durchschnittliche Tansanier (wie würden Sie übrigens einen
WG-Mitbewohner nennen, der den Kühlschrank leer frisst und Ihnen eine
einzige Erbse übriglässt?).
Das Diktum der Alternativlosigkeit ist extremistisch. Die Befreiung des
Denkens in die Vielfalt des tatsächlich Möglichen zu verdammen, ist
extremistisch. Wer die herrschenden Verhältnisse zum allein seligmachenden
Dogma erhebt, ist ein gefährlicher Extremist. Mit Sicherheit aber nicht
diejenigen, die für eine Welt ohne ökologische Katastrophen und perverse
Ungerechtigkeit kämpfen, für eine Welt der Zukunftsfähigkeit.
17 Nov 2022
## LINKS
[1] /Twitter-und-Aufmerksamkeit/!5888557
[2] /Sexistische-Beleidigung-gegen-Sawsan-Chebli/!5716464
[3] https://www.mdpi.com/2071-1050/13/11/6276/htm,
[4] /Union-vs-Letzte-Generation/!5890404
[5] https://www.who.int/news/item/22-09-2021-new-who-global-air-quality-guideli…
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/1,5-Grad-Ziel
## AUTOREN
Ilija Trojanow
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