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# taz.de -- Midterm-Wahlen in den USA: Von Tür zu Tür im „Dairyland“
> Bei den Midterms könnte Wisconsin entscheidend sein. Unterwegs mit einer
> Schwarzen Wählerinitiative, die die Menschen mobilisieren will.
Bild: Barack Obama auf einer Wahlkampfveranstaltung im Oktober in Milwaukee, Wi…
Milwaukee taz | Donyea Robinson ist sich sicher: „Es kann jederzeit alles
passieren.“ Der 24-Jährige meint eine Nachbarschaft in Milwaukee, in der er
zusammen mit sechs anderen am letzten Montag im Oktober Wahlkampfarbeit
betreibt.
Der Stadtteil St. Joseph im Norden der größten Stadt in Wisconsin ist
mehrheitlich afro-amerikanisch. Für knapp vier Stunden geht das Team an
diesem Tag von Tür zu Tür, um die Menschen daran zu erinnern, dass sie bei
den [1][bevorstehenden Midterms] ihre Stimme abgeben sollen.
Obwohl nicht viele Anwohner ihre Türen öffnen, hält Robinson das für eine
wichtige Aufgabe. Er selbst habe erst spät begriffen, wie sehr Politik den
Alltag der Menschen hier beeinflusst. „Lange lebte ich einfach mein Leben
und dachte, die Dinge sind halt so, wie sie sind. Erst seitdem ich diese
Arbeit mache, verstehe ich die Zusammenhänge“, sagt er und nimmt die Stufen
zur nächsten Haustür.
Robinson ist tätig für „BLOC“, eine gemeinnützige Organisation, die seit
2016, kurz nach Donald Trumps Wahlsieg, besteht und Politiker unterstützt,
die sich für benachteiligte Gesellschaftsgruppen einsetzen. BLOC steht für
„Black Leaders Organizing for Communities“.
Bisher hat die Organisation ausschließlich Kandidaten der demokratischen
Partei unterstützt. Auch in diesem Jahr ist das wieder so.
Beim Kampf um die Mehrheit im US-Senat könnte Wisconsin eine entscheidende
Rolle spielen. Zur Wahl stehen der republikanische Senator Ron Johnson, der
seit 12 Jahren den US-Bundesstaat in Washington vertritt, und sein
Herausforderer, der Demokrat Mandela Barnes. Der 35-jährige Barnes, der
2019 zum Vizegouverneur gewählt wurde, wäre der erste Schwarze US-Senator
aus Wisconsin, sollte er am Dienstag gewinnen. In einem republikanischen
Wahlwerbespot wird seine Hautfarbe dunkler gemacht, als sie ist – das Video
endet mit den Worten „anders“ und „gefährlich“.
Die Umfragen geben Barnes wenig Chancen. Noch bis Mitte September lag er
sogar einige Prozentpunkte vor Johnson, dann überholte der Amtsinhaber.
Johnson ist [2][strikter Abtreibungsgegner], lehnt Corona-Impfungen ab,
leugnet den menschengemachten Klimawandel, vertritt die Ansicht, Donald
Trump habe die Wahl 2020 gewonnen und verbreitete die These, [3][die
Kapitolstürmer vom 6. Januar 2021] seien als Trump-Unterstützer verkleidete
Antifa-Aktivisten gewesen. Seine Chancen für eine dritte Amtszeit stehen
recht gut: Er liegt im Durchschnitt derzeit rund drei Prozentpunkte vor
Barnes.
## Sogar Ex-Präsident Barack Obama kam angereist
Angela Lang, 32, hat BLOC mitgegründet. Rassismus sei in Milwaukee weit
verbreitet, sagt sie. Es gebe Unterschiede, in welche Stadtteile viel
investiert wird und in welche nicht, wo die Polizeipräsenz übermäßig ist
und wo nicht. St. Joseph, die Nachbarschaft, in der sie und ihr Team gerade
unterwegs sind, habe weltweit den größten Anteil inhaftierter Bewohner.
„Die Postleitzahl 53206 erhielt diesen Titel vor ein paar Jahren.“
Armut und Wohlstand sind in Milwaukee oft nur durch Brücken voneinander
getrennt. Im Süden der Stadt lebt vor allem die weiße Bevölkerung, zwar
nicht in überschäumendem Reichtum, aber komfortabel. Anders sieht es im
Norden der Stadt aus. Dort lebt ein Großteil der Bevölkerung an oder
unterhalb der Armutsgrenze. Einige der Häuser sind in einem erbärmlichen
Zustand, Fenster und Türen mit Sperrholzplatten vernagelt, Dachstühle
eingestürzt. Viele stehen leer, die Ladenlokale sowieso.
„In der ersten Nacht, nachdem wir hier eingezogen sind, gab es eine große
Schießerei. Und das war neu für mich. So etwas kannte ich nicht. Mir wurde
gesagt, ich soll mich verstecken, damit ich nicht von einer Kugel getroffen
werde“, erzählt die 80-jährige Betty Sibo, die erst seit fünf Monaten in
St. Joseph lebt. Aufgewachsen ist sie in einer Kleinstadt in Wisconsin, die
vergangenen 20 Jahre wohnte sie in Milwaukees Süden.
Tatsächlich sind Gewalt und Kriminalität in diesem Wahljahr dominierende
Themen. Dazu kommen die anhaltend hohe Inflation, bezahlbares Wohnen, das
Recht auf Abtreibung, Rassismus und die Zukunft der Demokratie. Dass die in
Gefahr sei, davor hat Präsident Joe Biden gerade in mehreren Reden
eindringlich gewarnt. Am Dienstag entscheidet sich, wie in den USA in den
kommenden Jahren mit diesen Themen politisch umgegangen wird.
## Obama: „Sie wollen euch wütend machen“
Um den in Umfragen unterlegenen Barnes zu unterstützen, reiste Ende Oktober
der frühere US-Präsident Barack Obama für Wahlkampfveranstaltungen nach
Milwaukee. Johnson und der Rest der Republikaner hätten kein Interesse
daran, die Probleme des Landes zu lösen, sagte er in der Turnhalle einer
Grundschule. „Es geht ihnen darum, euch wütend zu machen und dann einen
Sündenbock zu finden. Sie wollen euch damit ablenken, damit ihr nicht
merkt, dass sie selbst keine Antworten haben.“ Das Publikum war divers, die
Stimmung euphorisch. Aber lange Warteschlangen wie bei manchen
Trump-Veranstaltungen gab es nicht.
„America’s Dairyland“, heißt es auf den Autokennzeichen Wisconsins – d…
Milchland der Vereinigten Staaten. Demokraten hoffen, dass jemand wie
Vizegouverneur Barnes, der selbst aus einer Arbeiterfamilie stammt, die
Menschen aus der Mittelschicht zurückgewinnen kann, die sich in den
vergangenen Jahren mehr nach rechts orientiert haben.
Doch Insolvenzen von kleinen bis mittelständischen Agrarbetrieben haben der
Landwirtschaft in Wisconsin in den vergangenen Jahren schwer zugesetzt.
„Die wirtschaftlichen Bedingungen für Bauern sind äußerst schwierig“, sa…
Rick Adamski, 67, dessen Familie seit mehr als 100 Jahren Landwirtschaft
betreibt. Die Farm in der Nähe von Seymour, einer Kleinstadt 20 Meilen
westlich von Green Bay, hat er vor sechs Jahren an seinen Sohn und seine
Schwiegertochter übergeben. Aber er hilft aus und engagiert sich in einem
Bauernverband. „Die freie Marktwirtschaft sorgt für einen Wettlauf nach
unten“, sagt er. Die Preise für manche Produkte seien so niedrig, dass sie
die Kosten einfach nicht decken.
Und obwohl viele Farmer die Folgen der Klimakrise als große Sorge
bezeichnen, bleiben sie den Republikanern treu. „Den Menschen im mittleren
Westen geht es um Familie“, sagt Russ Otten, Republikanerchef in Sheboygan.
„Es geht darum, dass eine Frau und ein Mann eine Familie gründen und Kinder
haben. In der demokratischen Partei sind aktuell Personen in der
Führungsriege, die sich weigern zu sagen, dass Männer nicht schwanger
werden können. So weit ist es gekommen“, sagt Otten und referiert damit
auch die republikanische Kommunikationsstrategie.
Zwar sind Milwaukee und die Hauptstadt Wisconsins, Madison, fest in
demokratischer Hand. Doch am meisten prägt die Landwirtschaft den
Bundesstaat. Wollen die Demokraten eine Chance haben, Mehrheiten zu
gewinnen, müssen sie auch in den ländlichen Regionen punkten – und das wird
nach Jahren des Gerrymandering unter republikanischen Regierungen immer
schwerer.
## Ein hauchdünner Abstand
Gerrymandering, also das willkürliche Zuschneiden von Wahlkreisgrenzen, hat
laut Berechnung der Marquette University Law School in Wisconsin dazu
geführt, dass die Republikaner nur 44 Prozent der Stimmen brauchen, um eine
klare Mehrheit der Mandate zu gewinnen. Demokraten müssten hingegen die
Wahl mit mindestens zwölf Prozentpunkten Vorsprung gewinnen, um 50 Sitze im
Parlament und somit eine knappe Mehrheit zu erhalten.
Ein solcher Zuschnitt war möglich geworden, weil Wisconsins Kongress schon
seit 1995 eine republikanische Mehrheit hat – und der ultrarechte
Gouverneur Scott Walker in acht Regierungsjahren seinen Teil dazu tat. Erst
2018 wurde mit Tony Evers ein Demokrat als Gouverneur gewählt – und für die
Demokraten ist es unglaublich wichtig, dass er jetzt seine Wiederwahl
gewinnt.
Evers sei auf Landesebene der Einzige, der im Moment die radikale Agenda
der Republikaner stoppt, sagt Angela Lang von BLOC, „er ist unsere Abwehr.“
Seit Januar 2021 hat Evers 126 Mal von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht.
Unter anderem wies er Gesetzentwürfe zur Erleichterung des Waffenbesitzes
und zur Kürzung der Arbeitslosenhilfe zurück.
Sein republikanischer Kontrahent ist Tim Michels. Der Geschäftsmann konnte
sich auch dank Unterstützung von Trump gegen moderatere Kandidaten aus der
eigenen Partei durchsetzen. In diesem Rennen gibt es keinen klaren
Favoriten. Der Abstand zwischen beiden liegt in den Umfragen unter 1
Prozent.
5 Nov 2022
## LINKS
[1] /Midterm-Wahlen-in-den-USA/!5889128
[2] /Teilsieg-fuer-Abtreibungsrecht-in-den-USA/!5877100
[3] /Sturm-auf-das-Kapitol/!5888149
## AUTOREN
Hansjürgen Mai
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
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