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# taz.de -- Schwedens neue konservative Regierung: Geführt von rechts außen
> Schweden hat ein neues Regierungsbündnis. In diesem haben die
> rechtsextremen Schwedendemokraten das Sagen, obwohl sie nicht zur
> Regierung gehören.
Bild: Jimmie Akesson, Chef der Schwedendemokraten, am Wahlabend in Stockholm
Stockholm taz | „Inga rasister på våra gator“ skandierte Fridays for Futu…
am Freitagvormittag vor dem Reichstag in Stockholm: „Keine Rassisten auf
unseren Straßen.“ Gleichzeitig wurden im Reichstag die entscheidenden
Weichen dafür gestellt, dass mit den rechtsextremen [1][Schwedendemokraten]
erstmals eine Partei mit Neonaziwurzeln und rassistischer Politik
ausschlaggebenden Einfluss auf die künftige Regierungspolitik des Landes
bekommen wird.
Ulf Kristersson, Vorsitzender der konservativen Moderaten, meldete um 11
Uhr Parlamentspräsident Andreas Norlén den erfolgreichen Abschluss der
Regierungsverhandlungen. Am Montag will er sich im Parlament zum künftigen
schwedischen Ministerpräsidenten wählen lassen. Als Chef einer Koalition
seiner Partei mit den Christdemokraten und Liberalen und „in enger
Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten“. Diese würden zwar formal nicht
Teil der Regierung sein, aber deren parlamentarische Unterstützung beruhe
auf einem Zusammenarbeitsabkommen, hinter dem alle vier Parteien
gleichberechtigt stünden.
„Übereinkommen für Schweden“ heißt dieses 60-seitige detaillierte Abkomm…
das die Vorsitzenden der vier Parteien eine Stunde zuvor auf einer
gemeinsamen Pressekonferenz präsentiert hatten. Im Bereich Ausländer- und
Kriminalpolitik hätte seine Partei nahezu alle Versprechen, die sie ihren
WählerInnen gemacht habe, durchsetzen können, erklärte der
Schwedendemokraten-Vorsitzende [2][Jimmie Åkesson] stolz.
Schwedens Aylrecht solle auf das absolute Minimumniveau gesenkt werden, das
die EU zulasse. Während des Asylprozesses sollen Flüchtlinge sich durchweg
in Lagern aufhalten, um sie bei einer Ablehnung ihres Asylantrags schneller
abschieben zu können, die Rechtsmittel werden begrenzt. Statt unbefristeter
wird es nur noch zeitbegrenzte Aufenthaltsgenehmigungen geben, die
Voraussetzungen für den Familiennachzug und für Arbeitskrafteinwanderung
werden verschärft, Sozialleistungen gekürzt.
## Entwicklungshilfe wird zusammengekürzt
Die Zeit, in der Schweden aus humanitären Gründen die relativ meisten
UN-Quotenflüchtlinge in Europa aufgenommen hat, werden ebenfalls vorbei
sein. Wurden in diesem Jahr 6.400 aufgenommen, wird deren Zahl von 2023 ab
auf jährlich 900 begrenzt. Erst am Donnerstag hatte die UNHCR an die
EU-Länder appelliert, 40.000 anstatt der bislang versprochenen 23.000
aufzunehmen.
Auch in einem weiteren humanitären Bereich läutete Schwedens neue Regierung
eine „Zeitenwende“ (Åkesson) ein: Seit 1968 galt ein Reichstagsbeschluss
mit der Zielvorgabe, für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit 1
Prozent des Bruttonationaleinkommens bereitzustellen. Dieses Ziel wird nun
ersatzlos gestrichen, das Budget kräftig zusammengekürzt.
In der Klimapolitik sollen mehrere CO2-Steuern gesenkt werden,
beispielsweise die auf Treibstoffe. „Wir wollen die Klimaumstellung
schaffen, ohne dass das Budget von Familien und Unternehmen Schaden nimmt“,
erklärte Kristersson, der auch ein „Preisdach“ für Strom und den Bau neuer
Atomreaktoren ankündigte: Der Ausbau der Windkraft solle nicht mehr im
Zentrum stehen.
Zeigten die Vorsitzenden der vier Parteien am Freitag demonstrative
Einigkeit, hatten sich die Regierungsverhandlungen offenbar als schwieriger
erwiesen als zunächst erwartet. Zweimal hatte Kristersson bei
Parlamentspräsident Norlén eine Verlängerung für die Sondierungsphase
beantragen müssen, zuletzt am Mittwoch. Knackpunkt war offensichtlich bis
zuletzt die Frage, ob die Liberalen Teil der Koalition sein sollten oder
nicht. Diese selbst und Kristersson wollten das, die Schwedendemokraten
versuchten es zu verhindern.
## Die Liberalen sind einfach eingeknickt
Die Liberalen hatten vor vier Jahren mit der damaligen rot-grünen
Minderheitskoalition ein Regierungsübereinkommen getroffen. Hatten vor
eineinhalb Jahren angesichts stark gesunkener Umfragewerte und der Gefahr,
an der 4-Prozent-Parlamentssperrklausel zu scheitern, dann aber die Seiten
gewechselt und angekündigt, sie würden [3][nach der Wahl] eine konservativ
geführte Regierung unterstützen: Eine Zusammenarbeit mit den
Schwedendemokraten lehnten sie aber ab.
Nicht nur diese Bedingung gab die rechtsliberale Partei nun auf. Bis
zuletzt hatte sie versucht, sich gegen die von Konservativen,
Christdemokraten und Schwedendemokraten geplanten umfassenden
Verschärfungen im Ausländer- und Kriminalrecht zu stemmen, bevor sie nun
doch einknickte.
So einer Partei sei „nicht zu trauen“, äußerte der
Schwedendemokraten-Vorsitzende Jimmie Åkesson mehrmals. Dem Vernehmen nach
ließ er sich die Aufgabe der Blockade zu einer Koalitionsbeteiligung der
Liberalen mit weiteren Zugeständnissen bezahlen. So soll es in der
Regierungskanzlei ein mit Personal der Schwedendemokraten besetztes
Koordinierungszentrum geben, damit die Partei von Anfang an über alle
Vorhaben und Beschlüsse der Regierung informiert wird und diese
kontrollieren kann.
Zwar hat Schweden eine Tradition mit Minderheitsregierungen, die sich mit
Zusammenarbeitsabkommen die parlamentarische Unterstützung durch außerhalb
der Regierung verbleibende Parteien sichern. Eine umfassende personelle
Einbindung in die Regierungsarbeit wie die nun skizzierte, die laut Åkesson
und Kristersson noch konkretisiert werden muss, wäre aber ein Novum. Was
Kristersson mit der Bemerkung bekräftigte: „Wir sind nicht drei, wir sind
vier Parteien.“ Damit stünden die Schwedendemokraten nur auf dem Papier
außerhalb der Regierung, wären faktisch aber ein Teil von dieser, lauteten
am Freitag die ersten Einschätzungen in den Medien. Die Schwedendemokraten
seien „die großen Gewinner“, kommentierte Dagens Nyheter.
## Das Personal der Schwedendemokraten hat es in sich
Aber es ist eben auch eine [4][Koalition der Wahlverlierer]. Alle drei
Parteien hatten bei der Wahl am 11. September Verluste hinnehmen müssen.
Zusammen kommen sie nur auf 103 der 349 Reichstagsmandate. Es ist die
schmalste parlamentarische Grundlage aller schwedischen Regierungen seit
über vier Jahrzehnten. Nur mit Hilfe der 73 Schwedendemokraten-Mandate kann
die Kristersson-Koalition mit einer dünnen Mehrheit von zwei Stimmen
rechnen.
Wer in einer solchen Konstellation die Zügel in der Hand halten wird –
darüber machte sich nicht einmal die konservative Tageszeitung Svenska
Dagbladet Illusionen: „Man kann sagen, dass Ulf Kristersson
Ministerpräsident in Jimmie Åkessons Regierung wird“, hieß es in einem
Kommentar. Sollte die Koalition einmal auf die Idee kommen, nicht nach der
Pfeife der Schwedendemokraten tanzen zu wollen, müssten diese nur damit
drohen, gemeinsam mit den Sozialdemokraten zu stimmen, schreibt die
Gewerkschaftszeitung Arbetet: Zusammen hätten beide nämlich eine absolute
Mehrheit von 180 Mandaten.
Waren sich vor vier Jahren noch alle Parteien einig gewesen, den
Schwedendemokraten keinen einzigen Ausschussvorsitz im Reichstag zu
überlassen, war Teil des Regierungsübereinkommens jetzt, dass die
Rechtsaußen-Partei den Vorsitz in vier der einflussreichsten
Parlamentsauschüsse erhielt: denen für Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Justiz-
und Außenpolitik. Womit die Wahlkampfversprechen der Konservativen und
Christdemokraten, „natürlich“ würden die Schwedendemokraten wegen ihrer
EU-kritischen und russlandfreundlichen Haltung keinerlei Einfluss auf die
Außenpolitik bekommen, gleich wieder kippten.
Auch das Personal für die nun von den Schwedendemokraten besetzten Ämter
hat es in sich. Tobias Andersson, Vorsitzender des wirtschaftspolitischen
Ausschusses, pflegt seit Jahren engste Kontakte zu der „MAGA“-Bewegung der
US-Republikaner. Was er von Donald Trumps Trollfabriken lernte, konnte er
in Schweden bei „Battlefield“, einer im Sommer aufgedeckten Trollarmee der
Schwedendemokraten, beweisen, die seit 2017 „mit von der Partei
finanzierten Netz-Hassern verdeckte Propaganda über anonyme Facebookseiten“
in die sozialen Netzwerke pumpte „und auf Åkessons Anweisung Hass gegen
Behörden schüren sollte“, berichtet die Tageszeitung ETC.
Dem Justizausschuss sitzt mit Richard Jomshof der bisherige Parteisekretär
der Schwedendemokraten vor, der Schwedens Diskriminierungsgesetz abschaffen
will, aus seinem Islamhass nie ein Hehl machte, und für den Ungarns
staatliche Medienkontrolle ein Vorbild ist.
Parlamentsvizepräsidentin wird Julia Kronlid, die das geltende
Abtreibungsrecht ebenso wie die Evolutionstheorie in Frage stellte und
dafür plädierte, dass an Schulen neben Darwins Theorie auch der
Kreationismus – die biblische Schöpfungsgeschichte als Tatsachenbericht –
gelehrt wird. „Schweden macht sich international zur Lachnummer“,
kommentierte die Tageszeitung Aftonbladet ihre Wahl.
14 Oct 2022
## LINKS
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[4] /Rechtsruck-in-Schweden/!5881825
## AUTOREN
Reinhard Wolff
## TAGS
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