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# taz.de -- Russland annektiert ukrainische Gebiete: Der Landraub
> Mit einer Zeremonie im Kreml zelebriert Wladimir Putin die Annexion
> ukrainischer Gebiete. Militärisch kann die Ukraine weitere Erfolge
> verbuchen.
Bild: Propagandashow im Kreml: Putin und seine Lakaien nach der Unterzeichnung …
Es ist eine große Bühne, die auf dem Roten Platz in Moskau aufgebaut wurde.
Draußen soll am Freitagnachmittag gefeiert werden, unter anderem mit einem
Rockkonzert. Drinnen, im großen Kremlpalast, hat Wladimir Putin [1][zuvor
die Beitrittsverträge von vier ukrainischen Gebieten unterzeichnet]. Die
Oblaste Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja sollen nach seinem
Willen fortan zu Russland gehören. Die Annexionen werden völkerrechtlich
von anderen Staaten nicht anerkannt.
Vor der Unterzeichnung zusammen mit den vier von Russland eingesetzten
Gebietsverwaltern hielt Putin eine Rede, in der er dem Westen vorwarf,
Russland versklaven zu wollen. Die Menschen in den vier ukrainischen
Gebieten würden dagegen das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ für sich…
Anspruch nehmen. Es sei ihre freie Entscheidung, zukünftig zu Russland
gehören zu wollen. Eine groteske Verdrehung der Tatsachen, [2][die
Scheinreferenden in den besetzten Gebieten hatten mit einer freien
Abstimmung nichts zu tun.]
Der Ablauf der Einverleibung der vier Gebiete gleicht der Annexion der Krim
2014. Zuerst ließ man auch dort das verbliebene Volk unter vorgehaltenen
Gewehren der russischen Soldaten über eine Zugehörigkeit abstimmen, dann
erkannte Russland die Abstimmungsergebnisse an, um sich das Gebiet in einem
weiteren Schritt einzuverleiben. Es ist eine Fassade, die vortäuschen soll,
alles habe seine völkerrechtliche Legitimität.
Mit den jetzigen Annexionen hat Russland im Krieg der Ukraine seinen
Einsatz weiter erhöht. Nun wird die Rückeroberung dieser Gebiete durch die
Ukraine von Russland als Angriff auf sein Territorium gewertet. Auch der
Einsatz von Atomwaffen ist dann nicht mehr ausgeschlossen. Mit diesem hatte
[3][Putin bereits vergangene Woche gedroht.]
## Einkesselung russischer Soldaten bei Lyman
Die Annexionen erfolgen zu einem Zeitpunkt, an dem Russland auf dem
Schlachtfeld in die Defensive geraten ist. Militärisch sieht es aktuell gut
für die Ukraine aus. Über 50 Ortschaften habe man im Großraum Charkiw
zurückerobert, berichtet am Donnerstag Olexi Gromow vom ukrainischen
Generalstab.
500 russische Soldaten seien allein am Donnerstag getötet worden,
berichtete ein ukrainischer Radiosender unter Berufung auf den ukrainischen
Generalstab. Damit, so der Generalstab, seien 59.000 russische Soldaten
seit dem 24. Februar gefallen.
Im Nordosten der Region Charkiw kontrolliert die ukrainische Armee
inzwischen den größten Teil der Stadt Kupjansk, einen wichtigen
Eisenbahnknotenpunkt, der früher von Russland für die Versorgung seiner
Truppen genutzt wurde.
Die Offensive der ukrainischen Streitkräfte in der Region Lyman im Donbas
geht unterdessen weiter. Den russischen Truppen in diesem Gebiet droht die
Einkesselung. Lyman sei zur Hälfte eingekreist, räumt selbst Denis
Puschilin, Chef der „Volksrepublik Donezk“, auf seinem Telegramkanal ein.
„Das sind sehr unerfreuliche Nachrichten, aber wir müssen die Situation
nüchtern betrachten und aus unseren Fehlern lernen“, versucht der
Separatistenchef Puschilin seine Leute zu beruhigen.
## Folter und Massengräber
Auf russischen Telegramkanälen wurde berichtet, dass ukrainische Truppen
aus zwei Richtungen in das Gebiet Lyman vordringen würden. Über 3.000
russische Soldaten könnten dort in Gefangenschaft geraten oder getötet
werden.
Freude herrscht in der Ukraine über die Freilassung von sechs ukrainischen
Gefangenen, die am Donnerstag im Rahmen eines Austausches nach Hause
konnten. In die militärischen Erfolgsmeldungen mischt sich aber das
Erschrecken über das Ausmaß der Zerstörung und der Verbrechen während der
Besatzung. Jeden Tag erfährt die Öffentlichkeit von weiteren
Menschenrechtsverletzungen während der russischen Besatzung: von
Plünderungen, Hunger, Folter und Massengräbern.
In der von der Ukraine zurückeroberten Ortschaft Isjum wurde ein
[4][Massengrab mit den sterblichen Überresten von 450 Menschen entdeckt].
Bei einigen Toten, so Serhij Bolvinov, Leiter der regionalen
Polizeiermittlungsstelle, sei erkennbar, dass sie erschossen wurden. Einige
der Opfer sind offenbar hingerichtet worden, habe man diese doch zuvor an
den Händen gefesselt.
Unter den Toten, so Oleh Kotenko, der ukrainische Beauftragte für vermisste
Personen, könnten auch Kinder sein. Die Stadt, in der vor dem Einmarsch der
Russen rund 50.000 Menschen gelebt hatten, ist stark zerstört. Wer als
politisch unzuverlässig gegolten hatte, wurde von den Russen auf der
Polizeistation verhört und gefoltert.
In der befreiten Ortschaft Kozatscha Lopan in der Region Charkiw, zwei
Kilometer von der Grenze entfernt, wurde kürzlich auf einer verlassenen
Hühnerfarm ein Massengrab mit Dutzenden von Leichen gefunden. Die
Ukrajinska Prawda zitiert einen Polizeisprecher, der von Folter, Mord und
Verschleppungen durch die Russen spricht.
## Ukrainische Behörden warnen vor der Rückkehr
Die ukrainischen Behörden raten geflüchteten Menschen zurzeit auch von
einer Rückkehr in die befreiten Gebiete ab. Wo es keinen Strom, kein Wasser
und keine Heizung gibt, so die Argumentation, könne man den Winter nicht
überleben.
Die Ukraine ließ aber auch verlauten, dass man, weil man die Annexionen
nicht anerkenne, sich militärisch nicht durch sie begrenzt fühle.
Wie geht es nun weiter?
Es ist nicht auszuschließen, dass Russland nach der Annexion der vier
Gebiete nun sein Narrativ einer „Spezialoperation“ aufgibt und der Ukraine
förmlich den Krieg erklärt. Das wäre möglich, wenn es Kampfhandlungen auf
Gebiet gibt, das der Kreml nun als zu Russland gehörend ansieht.
## Weiterer Expansionsdrang?
Es ist auch möglich, dass Russlands Expansionsdrang mit der Einverleibung
dieser vier neuen Gebiete nicht beendet sein wird. Und dass Putin ein
Gebilde möchte, das an „Neurussland“ anknüpft, das er auch in seiner Rede
am Freitag erwähnte.
„Neurussland“ ist ein von Zarin Katharina II. im 18. Jahrhundert
annektiertes Gebiet, zu dem die Steppengebiete nördlich des Schwarzen
Meeres bis hinunter zur Krim gehören. Es sieht so aus, als plane Putin
trotz der militärischen Rückschläge weiter den Ausbau des für Russland
strategischen Korridors vom Donbas nach Transnistrien.
Ob Russland momentan militärisch dazu in der Lage ist, ist sehr fraglich.
Falls ja, müsste aber auch die Republik Moldau um den Erhalt ihrer
Souveränität bangen.
## Herrschen durch Angst
Niemand in Russland glaubt noch an eine Teilmobilmachung, bei der nur
Personen mit entsprechenden militärischen Kenntnissen eingezogen werden.
„Zahlreiche meiner Kollegen wurden in den vergangenen Tagen einberufen“,
berichtet Irina, eine Fremdsprachensekretärin für Deutsch aus Sankt
Petersburg, der taz am Telefon. Ihren Nachnamen möchte sie nicht öffentlich
machen.
„Die meisten von ihnen haben noch nie eine Waffe in der Hand gehabt“, sagt
sie. Ihre Kollegen würden als Kanonenfutter in die Kriegsregion geschickt.
„Wer noch nicht eingezogen ist, hat immer einen fertig gepackten Rucksack
bei sich mit Hygieneartikeln und Thermowäsche. Das müssen die alles selbst
kaufen“, berichtet Irina. „Dreimal mehr Geld, als die Firma bezahlt,
nämlich umgerechnet 4.500 Euro monatlich, erhalten meine Kollegen für ihren
Kriegseinsatz. Und im Todesfall verspricht man den Angehörigen umgerechnet
17.500 Euro.“ Gerade weil so viele Familien in Russland völlig überschuldet
seien, sei Geld ein wichtiger Grund, um in den Krieg zu ziehen.
„Ob diese Gelder wirklich bezahlt werden, werden wir noch sehen. Und wenn
man Tote für vermisst erklärt, sehen die Angehörigen gar nichts“, sagt
Irina.
In der Ukraine erwarten viele Menschen nach den Annexionen der vier Gebiete
und der Rede von Putin am Freitag eine noch weitere Zuspitzung des Kriegs.
„Der Putin kann doch einfach nicht genug bekommen. Hat er sich wieder Land
einverleibt“, sagt die Ernährungsberaterin Olga aus Hostomel. Sie möchte
ihren Nachnamen ebenfalls nicht öffentlich nennen.
„Ich kann die verstehen, die in Cherson und im Gebiet Saporischschja beim
Referendum mit „Ja“ gestimmt haben. Wenn hinter mir ein Gewehrlauf wäre,
würde ich auch so stimmen. Jeder denkt erst mal an sein Leben.“
Putin herrsche durch Angst. „Die Menschen in Cherson haben Angst, die
Menschen in Russland haben Angst, und auch in Europa hat man Angst vor
Putin, der vor nichts zurückschreckt. Auch nicht vor der Atomwaffe. Und
weil alle Angst haben, wird das alles noch eine ganze Zeit so weitergehen.“
30 Sep 2022
## LINKS
[1] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5884974
[2] /Volksabstimmungen-in-der-Ostukraine/!5884722
[3] /Scheinreferenden-vor-Abschluss/!5884643
[4] /Massengraeber-in-Isjum/!5879394
## AUTOREN
Bernhard Clasen
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