# taz.de -- Begegnung mit einem jungen Syrer: Auf dem ICE-Boden der Tatsachen | |
> Ohne Gepäck, nur mit Abschiebebescheid und Ticket ist ein junger Syrer im | |
> Zug unterwegs. Er möchte zu Verwandten, helfen tut ihm dabei kaum jemand. | |
Bild: Wer nicht willkommen heißt, hat keinen Platz verdient | |
Der ICE-Teppichboden ist borstig und rau. Durch die Glastür kann ich meinen | |
vakanten Sitz sehen, er ist der einzige leere Sitzplatz im ganzen Wagon. Um | |
die anderen Passagiere nicht zu stören, eigentlich um keine bösen Blicke zu | |
ernten, habe ich mich in den Gang zurückgezogen, um auf Arabisch zu | |
telefonieren. | |
Als ich auflege, spricht mich Saleh an. Er kam aus der Toilette heraus, | |
hatte mein Telefonat mitbekommen. Jetzt sitzen wir auf dem Boden und er | |
erzählt mir, was bisher geschah. | |
Saleh ist 20 Jahre alt. Er stammt aus dem syrischen Hasaka, lebte zuletzt | |
in Istanbul, arbeitete dort sieben Tage die Woche und zehn Stunden am Tag | |
in einer Textilfabrik, wurde schikaniert und von nationalistischen Türken | |
angegriffen. Saleh ist in den vergangenen sechs Monaten über Griechenland, | |
die Balkanroute, Ungarn und Tschechien nach Deutschland teils gelaufen. | |
Er sagt, er habe in Griechenland und Ungarn mehrere Pushbacks erlebt. Saleh | |
zeigt mir einen Brief von der deutschen Bundespolizei. Dort steht, dass er | |
vor Kurzem gemäß Dublin-Ankommen nach Tschechien abgeschoben wurde. „Die | |
tschechischen Polizisten haben uns eine Stunde später wieder über die | |
deutsche Grenze gescheucht“, erzählt Saleh. | |
## Nicht in die „Welcome Hall“ getraut | |
Er reist ohne Gepäck. Er hat, außer der Kleidung, die er am Leib trägt, und | |
den Abschiebebescheid nur ein Ticket dabei. Ein Syrer am Berliner | |
Hauptbahnhof habe es ihm gekauft. Alle anderen Menschen im Bahnhof seien | |
vor ihm weggelaufen, als er um Hilfe bat. In die [1][„Welcome Hall“ für | |
ukrainische Geflüchtete] habe er sich nicht getraut. „Preis mit Bahncard | |
50“ steht auf dem Ticket. | |
Natürlich besitzt Saleh keine Bahncard. Die Schaffnerin, da hatte er Glück, | |
hatte keine Lust auf Polizeiruf 110. Schaute sich das Ganze an und ging | |
einfach weiter. Er bekam es dennoch mit der Angst und sperrte sich in der | |
Toilette ein. | |
Nun sitzen wir auf dem Teppichboden. Er legt sein angewinkeltes Knie auf | |
mein Bein. Ein Verband ist dilettantisch um seine geschwollene Wade | |
gewickelt worden. An der serbisch-ungarischen Grenze sei er vor wenigen | |
Wochen vor der Grenzpolizei weggelaufen, habe sich verletzt. Eigentlich | |
nicht der Rede wert, nur eine kleine Wunde. Die habe sich aber später | |
entzündet. Seitdem sein Bein taub sei, könne er wieder ein wenig schlafen. | |
Im Wald oder an Bushaltestellen. | |
Bald könne er bei Verwandten in einer deutschen Kleinstadt ausschlafen. | |
„Das wäre schön“, er lächelt. Über mein Handy schreiben wir seinen Vater | |
an. Er lebt in der Türkei und schickt eine Sprachnachricht zurück – voller | |
Freude, dass sein Sohn noch lebt. | |
Der ICE bleibt stehen. Wir kaufen Snacks und ein gültiges Ticket für die | |
letzte Strecke im Regionalexpress. Kurz bevor das Signal an den Türen | |
blinkt, umarmt er mich und lässt sich auf der Treppe zum Oberdeck nieder. | |
„Freie Sitzplatzwahl“, rufe ich ihm noch zu. [2][All Refugees Welcome. Wer | |
das nicht will, hat keinen Platz verdient.] | |
5 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Mohamed Amjahid | |
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