# taz.de -- Josef H. Reichholfs Buch „Über Grenzen“: Jenseits der Grenzen … | |
> In seinem Essayband „Über Grenzen“ ist Josef H. Reichholf dem Trennenden | |
> auf der Spur. Kultur trenne ihm zufolge stärker als die Biologie. | |
Bild: Asysuchende auf dem Weg US-amerikanischen Grenze in El Paso | |
Grenzen existieren überall; sie trennen Staaten, Menschen, Gruppen, Arten | |
oder auch Körperzellen. Welche Funktionen können Grenzen haben? Wann sind | |
sie eine biologische Notwendigkeit? Wann sind Trennungen sinnvoll und wann | |
unsinnig? | |
Der Biologe Josef H. Reichholf versucht nicht, in seinem Essayband „Über | |
Grenzen“ Antworten auf sämtliche Fragen zu geben; es sind eher | |
Denkanstöße, die sich aus seinen „Betrachtungen“ ergeben. In lose | |
zusammenhängenden Texten kommt er vom Persönlichen aufs Allgemeine zu | |
sprechen und entfernt sich dabei recht weit von seinem Fachgebiet. | |
Die Biologie spielt in diesen Essays eine insgesamt eher randständige Rolle | |
– was vermutlich vor allem daran liegt, dass die Menschen es im Laufe ihrer | |
kulturellen Evolution zur wahren Meisterschaft darin gebracht haben, | |
Grenzen aller möglichen Arten aufzustellen, während die Grenzen in der | |
übrigen belebten Welt durchaus überschaubare und dabei meist notwendige | |
Funktionen haben. | |
## Grenzen klar definiert | |
Im Kleinen bedeute das, schreibt Reichholf: „Jegliches Leben beginnt mit | |
Abgrenzung“. Ohne die Abgrenzung zwischen einer Zelle und einer anderen | |
könne kein Körper existieren, und ohne Abgrenzung zu anderen Körpern gäbe | |
es kein Individuum. Andererseits ist die Überwindung einer Zellgrenze beim | |
sexuellen Fortpflanzungsvorgang notwendig, damit neues Leben entstehen | |
kann. | |
Im Großen strukturieren ebenfalls Grenzen die Lebensräume aller Lebewesen: | |
Im Tierreich werden insbesondere zwischen nah verwandten Arten Reviere sehr | |
klar definiert, wobei in den grenznahen Bereichen die Unterschiede zwischen | |
den Arten besonders groß sind beziehungsweise evolutionär größer werden, | |
nachdem die Arten aufeinandergetroffen sind und sich eine Grenze etabliert | |
hat: „In der Grenzzone unterscheiden sie sich dann deutlich stärker | |
voneinander als fern davon in den zentralen Bereichen ihres Areals.“ | |
Im Menschenreich findet sich dieses Phänomen ebenfalls, wobei es hier nicht | |
um physisch unterscheidende Merkmale geht, sondern darum, dass Menschen in | |
grenznahen Regionen ihre kulturellen Unterschiede oft besonders betonen. | |
Reichholf, aufgewachsen an der bayrisch-österreichischen Grenze, hat dazu | |
etliche erhellende Anekdoten aus dem eigenen Leben beizusteuern. | |
Andere Grenzerlebnisse bringt er von seinen vielen Forschungsreisen mit, | |
einschließlich der Feststellung, dass sogar solche Grenzen, die von | |
einstigen Kolonialverwaltungen völlig willkürlich gezogen wurden, ein | |
geradezu absurdes Beharrungsvermögen zeigen können. | |
Als die mächtigsten Grenzen, die Menschen zwischen ihrer eigenen und | |
anderen Gruppen errichten, stehen jedoch am Schluss des Buches Kultur und | |
Religion da. „Kultur trennt stärker als Biologie“, stellt der Autor fest, | |
und: „Sprache macht Menschen ‚anders‘ – mehr als alles andere.“ | |
## Vernichtung kultureller Vielfalt | |
Sein Fazit lautet daher: „… wer die Einheit der Menschheit anstrebt, muss | |
Kulturvernichtung als Kollateralschaden akzeptieren. Eine ‚Menschheit‘ mit | |
gleichen Rechten und Pflichten für alle kann nur durch die Preisgabe der | |
sprachlichen und kulturellen Vielfalt entstehen.“ | |
Diese kulturpessimistischen Betrachtungen sind schon deshalb stark | |
diskutabel, weil der Autor damit wirklich sehr forsch die Grenzen zu | |
anderen wissenschaftlichen Disziplinen überschritten hat. | |
28 Sep 2022 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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