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# taz.de -- Protestforscher über Montagsdemos: „Der Montag ist schon besetzt…
> Die Montagsdemonstrationen haben ein zwiespältiges Erbe. Der
> Bewegungsforscher Alexander Leistner ordnet die geplanten Sozialproteste
> in Ostdeutschland ein.
Bild: Montagsdemo am 4. Dezember 1989 in Leipzig: Jetzt will die Linke erneut a…
taz: Herr Leistner, Sie arbeiten als Bewegungsforscher an der Uni Leipzig
an dem Projekt Erbe 89, das die Montagsdemos in Ostdeutschland und ihre
wechselhafte Bedeutung erforscht. Wie erleben Sie aktuell [1][die Debatte
über einen “heißen Herbst“]?
Alexander Leistner: Das Charakteristische ist ja, dass wir über
Demonstrationen sprechen, die noch gar nicht stattgefunden haben. Es gibt
eine große mediale Aufmerksamkeit, ohne dass schon etwas passiert ist. Und
diese mediale Debatte verstärkt wiederum die Mobilisierung, auch bei
extremen Rechten.
Wer mobilisiert denn aktuell?
Da gibt es zwei Stränge: Es gibt aus der Linken seit einigen Wochen den
Aufruf, diesen Herbst gegen die Energiepolitik zu demonstrieren, mit einer
ersten Demonstration am kommenden Montag in Leipzig. Gleichzeitig gibt es
seit 2014 Montagsdemos in vielen kleinen und mittleren ostdeutschen
Städten: Zuletzt wurde dort gegen die Corona-Politik demonstriert, als die
Querdenken-Bewegung bundesweit schon nicht mehr stark war. Und diese haben
sich nun auch die Proteste gegen die Energiepolitik angeeignet.
Wie sieht das vor Ort aus?
Am vergangenen Wochenende waren in Plauen 2.500 Menschen auf der Straße, am
Montag gab es in Gera, Görlitz, Chemnitz und vielen anderen ostdeutschen
Städten Proteste. Einige Teilnehmer trugen Russlandfahnen, andere
forderten, die Pipeline Nord Stream 2 zu öffnen. Viele Plakate richteten
sich explizit gegen Robert Habeck und die Grünen.
Der Bundeskanzler hat die hohen Energiepreise als „sozialen Sprengstoff“
bezeichnet, die Außenministerin fürchtet „Volksaufstände“ – halten Sie…
für realistisch?
Ich halte diese Äußerungen für ein Signal von staatlicher Seite: Man will
nicht noch einmal aufkommende Proteste verschlafen, wie es bei den
Protesten gegen die Corona-Politik der Fall war. Die Zuspitzung, es drohten
Volksaufstände, ist aber trotzdem übertrieben.
Es gibt die Befürchtung, dass berechtigter Protest gegen die Energiepolitik
der Bundesregierung von Rechten unterwandert wird. Teilen Sie das?
Das ist regional sehr unterschiedlich. In großen Städten wie Leipzig wird
die Linke es vermutlich schaffen, die Proteste zu dominieren. Aber in
kleineren ostdeutschen Städten gibt es seit 1990 eine rechte Hegemonie auf
der Straße. Das hat sich in den vergangenen Jahren noch verstärkt, durch
Pegida und die Querdenken-Demos.
Nun organisiert die Linke den Auftakt ihres “heißen Herbstes“ ausgerechnet
an einem Montag und ausgerechnet in Leipzig und will damit natürlich an die
Tradition der Montagsdemos 89 und die Proteste gegen Hartz IV im Jahr 2004
anknüpfen. Halten Sie das für eine gute Idee?
Nein, ich glaube, das ist keine gute Idee. Der Montag ist seit Jahren von
rechten Akteuren besetzt.
Klingt, als hätte man sich in der Linken mit dem Wochentag keinen Gefallen
getan.
Für mich ist dieser Bezug auf Montagsdemos ein Fall von Selbstüberschätzung
aus den Großstädten. Die Zivilgesellschaft ist in vielen ostdeutschen
Städten schwach, die kann das gar nicht leisten, nach Jahren mit rechten
Protesten in der Fläche zu demonstrieren. Die spannende Frage wird sein, ob
es trotzdem gelingt, soziale Proteste zu organisieren, die sich räumlich,
zeitlich und inhaltlich klar davon abgrenzen.
Was bedeutet das?
Es muss darum gehen, in der Energiekrise die rechten Deutungsmuster nicht
zu übernehmen. Also die Frage nach solidarischer Lastenteilung zu stellen,
ohne den russischen Angriffskrieg zu relativieren und damit Ursache und
Wirkung zu verkehren.
Ein anderer Wochentag hätte andere Assoziationen geweckt.
Ja, Fridays for Solidarity, zum Beispiel. Aber von der Klimabewegung
wollten sich Teile der Linkspartei offenbar bewusst abgrenzen.
Trotz Pegida bleibt die Montagsdemo offenbar auch für viele Linke ein
starkes Narrativ.
Die Ereignisse 89 in der DDR waren eine charismatische Erfahrung, die die
politische Kultur geprägt haben. Die überraschende Erfahrung, dass eine
Diktatur wie ein Kartenhaus zusammenbricht, hat eine
Unmittelbarkeitserwartung geweckt.
Was meinen Sie damit?
Es gibt in der politischen Kultur in Ostdeutschland die Erwartung, dass
Demonstrationen direkt in politisches Handeln umgesetzt werden: Wir
demonstrieren hier so lange, bis unsere Forderung erfüllt wird. Es fehlt
die Erfahrung einer langjährigen, stabilen Demokratie, mit einer starken
Zivilgesellschaft, Parteien und Gewerkschaften, in denen man sich
langfristig für seine Interessen einsetzt.
Viele Linke denken bei Montagsdemos auch an die Demonstrationen gegen die
HartzIV-Reformen 2004: Es waren die größten Sozialproteste in der
Geschichte der Bundesrepublik. Wie fing das an?
Die Proteste entstanden quasi aus dem Nichts. Das war eine
Graswurzelbewegung, ähnlich wie Fridays for Future. In Magdeburg
organisierte ein Einzelner, Andreas Ehrholdt, mit selbst gemachten Plakaten
die erste Demonstration. Erst kamen 600, eine Woche später 6.000. In ganz
Deutschland gingen bis zu 200.000 Menschen auf die Straße. Parteien und
Gewerkschaften waren zunächst gar nicht beteiligt.
Heute will die Linkspartei also etwas von Oben organisieren, was damals von
Unten kam.
Ja, so könnte man das formulieren. Und die Tragik ist natürlich, dass die
Proteste zwar groß, aber politisch erfolglos waren.
Wer ging denn 2004 auf die Straße?
Aus Befragungen wissen wir, dass Menschen demonstrierten, die durch die
HartzIV-Reformen etwas zu verlieren hatten. Viele waren über 55 Jahre alt
und hatten Angst vor dem Verlust ihrer Arbeit, weil eine berufliche
Umorientierung in diesem Alter schwer ist.
Heute ist diese Generation alt. Was wissen Sie über die rechten
Montagsdemos von Pegida?
Bei Pegida ist es interessanterweise so, dass die Mehrheit der
Demonstranten bei Befragungen angibt, dass sie 89 auf der Straße waren,
nicht aber 2004. In den letzten Jahren hat sich bei den
Montagsdemonstrationen gegen die Coronapolitik ein AfD nahes Kernmilieu
herausgebildet.
Waren auch bei den Sozialprotesten 2004 schon Rechtsextreme beteiligt?
Ja, das ist relativ unbekannt. In einigen ostdeutschen Städten hatten
Neonazis die Demonstrationen übernommen, in anderen wurden die Montagsdemos
von den Veranstaltern eingestellt, um den Rechten keine Bühne zu geben.
Lange vor Pegida schrieben damals ehemalige Bürgerrechtler, dass diese
Protestform verloren ist.
Können neue soziale Bewegungen überhaupt an Demos vor 20, 30 Jahren
anknüpfen oder ist das zum Scheitern verurteilt? Der erste Mai in Kreuzberg
ist heute eine Bratwurstmeile.
Sicherlich gibt es bei Demonstrationen oft die Gefahr, folkloristisch zu
werden. Ein anderes Beispiel sind die Ostermärsche, bei denen wir aus
Befragungen von Teilnehmenden wissen, dass sie seit langem nur ihr
Kernmilieu mobilisieren. Das ist aber bei Demonstrationen mit Bezug auf 89
in gewisser Weise anders.
Inwiefern?
Die Montagsdemos sind spezifisch ostdeutsch, aber erreichen
unterschiedliche Gruppen. Ein Beispiel: In Plauen demonstrieren am
Wendedenkmal die Rechtsextremen vom Dritten Weg, an einem anderen Tag wird
der Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert.
Was glauben Sie, werden die neuen Sozialproteste ein Erfolg?
Es gibt sicherlich ein Potenzial für progressiven Protest. Aber zumindest
in Ostdeutschland wird es nicht leicht, an den rechten Akteuren vorbei
etwas auf die Beine zu stellen. Das ist wie beim Hasen und dem Igel: Der
andere ist immer schon vorher da.
5 Sep 2022
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[1] /Protest-gegen-Energie--und-Sozialpolitik/!5876115
## AUTOREN
Kersten Augustin
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Janine Wissler
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