| # taz.de -- Demografie, Rente und Fachkräftemangel: Im Jahr 2035 sehen wir alt… | |
| > Wieso wird jetzt über die Rente mit 70 diskutiert? Und wo sind all die | |
| > Fachkräfte hin? Ein demografischer Ausblick gibt die Antwort auf diese | |
| > Fragen. | |
| Bild: Dortmund 1966, die Babyboomer auf dem Spielplatz gehen heute bald in Rente | |
| Berlin taz | Zwei Themen prägen gerade die arbeitsmarktpolitische Debatte | |
| in Deutschland: das Renteneintrittsalter und der Fachkräftemangel. Bei | |
| letzteren fragt man sich mittlerweile: wo sind die nur alle hin? Bei | |
| ersterem hatte Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, | |
| Anfang August gefordert, das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre zu steigern. | |
| Das sei schon allein wegen der demografischen Entwicklung notwendig, wenn | |
| das Rentensystem finanzierbar bleiben soll. Hat er recht? Auf beides | |
| liefert die Demografie Antwort. | |
| Für die Krise des Rentensystems wird häufig die gestiegene Lebenswartung in | |
| Deutschland als Ursache genannt. Ohne Zweifel ist es auf Dauer | |
| problematisch, wenn die Menschen immer länger leben, sich ansonsten aber | |
| gar nichts ändert. Auch in Deutschland wird das absehbar zum Problem, aber | |
| so richtig zum Tragen kommt das erst ab dem Jahr 2050. Bis dahin hat die | |
| Bundesrepublik zwei wesentlich gravierendere Entwicklungen zu meistern: | |
| Babyboom und Geburtenrückgang gleichzeitig. | |
| Das kann man [1][in einem Gutachten nachlesen], das der Wissenschaftliche | |
| Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums [2][vor einem Jahr vorgelegt] hat. | |
| Zwar steige die Lebenserwartung kontinuierlich. Die erste Phase des | |
| demografischen Wandels sei aber „vom schnellen Anstieg des Altersquotienten | |
| aufgrund von Babyboom und Pillenknick dominiert, deren Wirkung etwa im Jahr | |
| 2035 kulminiert.“ | |
| Babyboom und Pillenknick? Das klingt nur auf den ersten Blick | |
| widersprüchlich. Aber die Phänomene gab es ja auch nicht gleichzeitig, | |
| sondern um Jahrzehnte versetzt. Zunächst gab es einen Babyboom in den | |
| 60er-Jahren mit in der Spitze mehr als 1,3 Millionen Geburten im Jahr 1964. | |
| Später gab es gleich zweifach einen Geburtenknick. Zunächst hatte sich die | |
| Zahl der Geburten bis Mitte der 70er Jahre auf unter 800.000 nahezu | |
| halbiert. Nach einem kurzzeitigen Anstieg sank sie in Folge des Mauerfalls | |
| vor allem im Osten, [3][bis sie im Jahr 2011 mit 662.685 den bisher | |
| niedrigsten Stand erreichte]. | |
| ## 12,9 Millionen frische Rentner:innen | |
| Im Zusammenspiel türmen sich die sehr verschiedenen Wellen zu einem | |
| gigantischen Problem auf. Die vielen in den 60er Jahren geborenen | |
| Babyboomer gehen in den nächsten zehn Jahren in Rente. Dadurch steigt nicht | |
| nur die Zahl der Menschen über 65 deutlich. Gleichzeitig fallen die | |
| geburtenstarken Jahrgänge auch als Arbeitskräfte weg. Nach Angaben des | |
| Statistischen Bundesamtes werden 12,9 Millionen Erwerbspersonen bis 2036 | |
| das Renteneintrittsalter überschritten haben. Dies entspricht knapp 30 | |
| Prozent der aktuell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden | |
| Erwerbspersonen. | |
| Das wäre kein Problem, wenn es gleichviele Jüngere gäbe. Aber Ersatz ist | |
| nicht in Sicht. Denn in 10 Jahren gehen die Mitte der 70er Geborenen auf | |
| die 60 zu. Dann wird es gerade mal noch gut 900.000 58-Jährige geben. Heute | |
| sind es rund 400.000 mehr. Zudem wird es deutlich weniger 20 bis 35-Jährige | |
| geben als heute, weil dann die besonders geburtenarmen Jahrgänge aus den | |
| Nullerjahren nachrücken. | |
| Besonders anschaulich wird das anhand einer [4][interaktiven Alterspyramide | |
| des statistischen Bundesamtes]. Aktuell sind 22 Prozent aller Menschen in | |
| der Bundesrepublik älter als 65 Jahre. Im Jahr 2035 werden es 28 Prozent | |
| sein. Der Anteil der 20- bis 64-Jährigen sinkt hingegen im gleichen Maße – | |
| von aktuell 59 auf 53 Prozent. | |
| Die Relation zwischen diesen beiden Altersgruppen verändert sich also | |
| dramatisch. Das zeigt sehr eindrücklich der Wert des Altersquotienten, also | |
| wie viele Rentner:innen es pro 100 Menschen im „Arbeitsalter“ (zwischen | |
| 20 und 64 Jahren) gibt. Vor 20 Jahren lag der Altersquotient bei 28 und vor | |
| zehn Jahren kamen noch 34 Menschen im Rentenalter auf 100 Erwerbsfähige. | |
| Mittlerweile liegt der Wert aber bei 38 und der Trend setzt sich | |
| voraussichtlich weiter fort. | |
| Geht es so weiter, dann steigt dieser Altersquotient bis ins Jahr 2035 von | |
| 38 auf 53. Für das Rentensystem ist das fatal. Dabei ist es durch die | |
| Entwicklungen der letzten Jahre schon gestresst. | |
| ## Also doch länger arbeiten? | |
| Um dem entgegenzuwirken, wird das Renteneintrittsalter auch schon | |
| schrittweise erhöht, bis zum Jahr 2035 auf dann 67 Jahre für alle. Weil die | |
| Menschen dann länger arbeiten müssen und später in Rente gehen, steigt der | |
| Altenquotient nicht ganz so dramatisch. Er wird – wenn sich nichts weiter | |
| ändert – im Jahr 2035 bei 46 liegen – und danach weiter steigen. | |
| Was man tun kann, um die Relation zwischen Alten und Arbeitenden in etwa | |
| auf heutigen Niveau zu halten, kann man leicht mit der Alterspyramide des | |
| Statistikamtes herausfinden. [5][Schiebt man den Balken des | |
| Renteneintrittsalters auf 70 hoch], bleibt der Altenquotient bis zum Jahr | |
| 2035 stabil. | |
| Hat der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall also recht, wenn er | |
| die Rente mit 70 fordert? Ja. Zumindest, wenn sich an anderen Faktoren | |
| nichts ändert. Allerdings wird ein späterer Renteneintritt Abschläge für | |
| alle bedeuten, [6][die es zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen nicht | |
| bis 70 schaffen]. Klar ist aber: es ist höchste Zeit über neue Modelle zu | |
| reden, etwa darüber [7][ob und wie ein differenziertes Renteneinstiegsalter | |
| gerechter sein kann]. | |
| Es könnten sich in den kommenden Jahren aber auch noch nicht vorhersehbare | |
| Änderungen ergeben. Zum Beispiel stoppte der ansonsten kontinuierliche | |
| [8][Anstieg der Lebenserwartung zuletzt] – aufgrund der Coronapandemie. Das | |
| zeigt aber nur, dass die Prognosen immer mit einem Unsicherheitsfaktor | |
| versehen sind. Der ist auch bei anderen Faktoren gegeben. Eine annähernde | |
| Vollbeschäftigung wie aktuell erlaubt es etwa, deutlich mehr | |
| Rentner:innen zu finanzieren, ohne dass das System überspannt wird. | |
| ## Und was ist mit Frankreich? | |
| Ein Blick in andere Länder hingegen hilft nur bedingt weiter. So wird von | |
| Kritiker:innen gern auf Frankreich verwiesen. Auch dort hatte die | |
| Regierung das Renteneinstiegsalter erhöhen wollen – von 62 auf 64. Was | |
| hierzulande als geradezu traumhaft gilt, wurde dort mit wochenlangen | |
| Protesten gekippt. | |
| Aber wie kann sich Frankreich das leisten? Auch hier hilft ein Blick auf | |
| die Demografie. Unser Nachbar hat [9][eine komplett andere Alterspyramide]. | |
| Die Jahrgänge sind nahezu gleichmäßig groß. Es ist weder ein Babyboom in | |
| den 60ern, noch ein deutlicher Geburtsknick in den 70ern oder 90ern | |
| erkennen. Es gibt dementsprechend weder eine Bugwelle an Alten, die im | |
| kommenden Jahrzehnt in die Rente drängt, noch eine Lücke an Jüngeren. Das | |
| ist auch die Folge einer Politik, die kinderreiche Familien finanziell und | |
| durch weitreichende Betreuungsangebote förderte. | |
| Ganz anders sieht es etwa in Spanien aus. Dort setzte [10][eine | |
| gesellschaftliche Liberalisierung erst mit dem Ende der Franco-Diktatur ab | |
| 1975 ein]. Die Pille wurde dort erst 1978 legalisiert. Die Zahl der | |
| Geburten sank in den ersten zehn Jahren nach Ende der Diktatur um ein | |
| Drittel, bis 1995 um fast die Hälfte. Da die geburtenstarken Jahrgänge nun | |
| auch schon 45 und älter sind, steht dem spanischen Rentensystem auch ein | |
| demografischer Schock bevor, wenn auch rund zehn Jahre später als | |
| hierzulande. | |
| Der demografische Schockt trifft Deutschland auch noch am anderen Ende der | |
| Alterspyramide – und dürfte entscheidend für den aktuell in vielen Branchen | |
| beklagten Fachkräftemangel sein. Gemeinhin wird viel darüber berichtet, | |
| dass einige Branchen in der Corona-Pandemie entlassenes Personal nicht | |
| wieder zurückgewinnen können. Das spielt sicherlich eine Rolle. Viel | |
| dramatischer ist aber auch hier die demografische Entwicklung. | |
| ## Wo sind all die Fachkräfte hin? | |
| Was das heißt, wird ersichtlich, wenn man die Bevölkerung [11][in | |
| Altersgruppen von jeweils 5 Jahren teilt]. Im Jahr 2021 gab es rund 5,7 | |
| Millionen 30- bis 34-Jährige. Aber nur noch 4,7 Millionen 25- bis | |
| 29-Jährige, also eine Million weniger. Die noch jüngeren Jahrgänge sind | |
| noch etwas dünner besetzt. Mit anderen Worten: es fehlt der Nachwuchs. | |
| So ist es kein Wunder, dass es Branchen wie der Gastronomie, in der | |
| traditionell viele junge Menschen als Teilzeitkraft in Nebenjobs etwa | |
| parallel zum Studium tätig sind, Schwierigkeiten haben Personal zu finden. | |
| Es ist – leicht zugespitzt gesagt – einfach niemand mehr da. | |
| Handwerksbetriebe, die ihren Nachwuchs über Azubis im Teenageralter | |
| rekrutieren, mussten schon vor Jahren erfahren, dass ihre Stellen schwierig | |
| zu besetzen sind. Nicht, weil die Nullerjahrgänge, wie oft beklagt wird, | |
| nichts mehr auf dem Kasten haben, sondern weil sie mengenmäßig nicht so | |
| viel zu bieten haben. Aktuell können vier von zehn Betrieben nicht alle | |
| Ausbildungsplätze besetzen. | |
| Daher bekommen nun auch Arbeitgeber:innen, die auf akademischen Nachwuchs | |
| angewiesen sind, Probleme. Denn nun sind die Mittzwanziger, die | |
| üblicherweise ihr Studium beenden, [12][Mangelware geworden]. | |
| ## Mitarbeiter werden ein knappes Gut | |
| Das hätte man mit Blick auf entsprechende Statistiken auch schon vor | |
| einigen Jahren erkennen können. Aber solche Zusammenhänge sind auch nicht | |
| leicht zu verstehen. Personalmanager sind jedenfalls gut beraten, wenn sie | |
| erkennen, dass Mitarbeiter in den kommenden Jahren weniger ein Kostenfaktor | |
| in den Bilanzen, als ein äußerst knappes Gut sind, das man schonend | |
| behandeln sollte, damit es nicht abhandenkommt. | |
| Denn Ersatz ist auch in der nächsten Generation nicht zu erwarten – im | |
| Gegenteil: die Zahl der Abiturienten ist von 297.000 im Jahr 2016 auf | |
| 247.000 im Jahr 2020 gesunken. Ein Rückgang um ein Sechstel in nur vier | |
| Jahren. | |
| Um die Menge der Menschen im Alter zwischen 20 und Renteneintritt bis zum | |
| Jahr 2052 nur einigermaßen auf heutigen Level zu halten, müsste man [13][in | |
| der Alterspyramide des statistischen Bundesamtes schon die Geburtenraten | |
| und den Wanderungssaldo auf „hoch“ setzen]. In einer statistischen Grafik | |
| geht das per Knopfdruck. In der Realität ist eine Umsetzung aber nicht in | |
| Sicht. | |
| 25 Aug 2022 | |
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| [9] https://www.populationpyramid.net/de/frankreich/2022/ | |
| [10] /!1169883/ | |
| [11] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/08/PD22_330_13.h… | |
| [12] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/09/PD21_414_213.… | |
| [13] https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/index.html#!y=2052&a… | |
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| Gereon Asmuth | |
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