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# taz.de -- Demografie: Eine "Wissenschaft der Angst"
> In seinem Buch "Der ewig währende Untergang" stellt Thomas Etzemüller
> fest, wie oft sich Demografen schon geirrt haben, die ein Volk schrumpfen
> sahen.
Bild: Erfolgreicher Katastrophendiskurs: Schon 1930 wurde vor Überalterung gew…
Die Deutschen kriegen zu wenig Kinder, das Land vergreist. Schon bald, so
die sattsam bekannte Warnung, werden die Jungen von der Altersfürsorge für
die Rentner überfordert sein und kinderfreudige Fremde das Ruder
übernehmen, ergo: das Volk kollabiert. Diese Befürchtung formulieren
Bevölkerungsexperten nicht nur gegenwärtig, sondern auch schon im Jahre
1930 oder 1950. Jeweils sagten sie voraus, dass sich die Bevölkerung in den
nächsten 50 Jahren um die Hälfte oder ein Drittel dezimieren und sich von
dieser Schrumpfung nicht erholen werde.
Geschrumpft wird nicht - und das ist wichtig - aufgrund von Kriegen, Natur-
oder Umweltkatastrophen, sondern aufgrund eines spezifischen sozialen
Verhaltens, das der Moderne, also einer Entfernung von der Natur geschuldet
war beziehungsweise ist. Immer behielten die Experten unrecht. Die
Demografie ist, konstatiert Thomas Etzemüller, seines Zeichens Professor
für Zeitgeschichte in Oldenburg, eine "Wissenschaft der Angst". Warum aber,
so fragt er in seiner Studie "Ein ewigwährender Untergang" ist dieser
Katastrophendiskurs so erfolgreich? Was macht ihn so realitätsresistent?
Nun bestreitet die Studie nicht, dass Geburten zurückgehen. Doch weder sind
die Datenerhebung oder die daraus gezogenen Schlussfolgerungen unschuldig
noch ist es die für die Demografie grundlegende Verknüpfung von Volk und
Raum. Die erst jüngst vorgenommene Korrektur in Sachen kinderlose
Akademikerinnen illustriert das auf ihre Weise: Bislang wurden in
Deutschland Frauen, deren Kinder nicht (mehr) mit ihnen in einem Haushalt
lebten, oder Mütter, die älter als 39 Jahre waren, als kinderlos erfasst.
Nicht weniger ideologisch ist die Darstellung der Bevölkerung und ihrer
Entwicklung in eigens entwickelten Grafiken. Die Demografie, so Etzemüller,
ist eine zutiefst moralische "Schule des Sehens". Das bis heute gängige
Triptychon etwa von der Pyramide als Ausdruck einer gesunden Gesellschaft
(die Jungen bilden die breite Basis, die Alten nur die Spitze) über die
Glocke, die heute in Zeiten des Waldsterbens "zerzauste Tanne" heißt (die
Basis verschmälert und die Schicht der 40-Jährigen bläht sich), bis hin zur
Urne (die 60-Jährigen stellen die Mehrheit), sind ihm wesentliche
Bestandteile eines suggestiven Diskurses, der das, was er objektiv
abzubilden vorgibt, allererst in einer großen Abstraktionsleistung
herstellen muss.
Ein Ländervergleich enthüllt weitere Konstruktionsprinzipien.
Gegenübergestellt werden Aussagen von schwedischen und von deutschen
WissenschaftlerInnen. In beiden Ländern entfachte die Feststellung eines
Geburtenrückgangs eine breite Diskussion. Schweden besitzt kei- ne
nationalsozialistische Vergangenheit, und auch die jeweils mit einem
Nobelpreis ausgezeichnete Vorzeige-Intellektuellen Alvar und Gunnar Myrdal
sind keiner Sympathien verdächtig. Das der Sozialdemokratie verpflichtete
Paar Myrdal veröffentlichte 1934 ein weithin beachtetes Buch zur
vermeintlich katastrophalen Reproduktionsunwilligkeit und unterbreitete
radikale Lösungsvorschläge. Es ging ihnen um die Durchsetzung eines neuen,
nämlich modernen Menschen. Die Ökonomie sollte umstrukturiert und die von
der Erwerbstätigkeit und der Erziehung notwendig überlasteten Frauen durch
Kinderkrippen und ein Schulsystem unterstützt werden, das die Sprösslinge
unter der ständigen Aufsicht von Lehren zu Kollektivisten mit rationaler
Lebensführung erzieht. Kinder, zumal die der gebildeten Schichten, waren
für die Myrdals eine zentrale Ressource zur Erneuerung der Gesellschaft. Im
Gegensatz zu den Älteren schienen sie ihn leichter formbar, außerdem würden
sie die neue Werteordnung in die Familien hineintragen. Aber auch sie waren
der Ansicht, dass mit dem Geburtenrückgang "minderwertiges Volksmaterial"
ins Land gesogen würde. Dieses wiederum gefährde die Löhne und die
allgemeine Stabilität.
Die selbstverständliche Verkettung von Geburtenrückgang mit Überfremdung
und Erschütterung gesellschaftlicher Errungenschaften, also die
Unterscheidung zwischen gewünschten, nämlich schwedischen und gut erzogenen
Kindern und den unerwünschten, nämlich ausländischen Kindern, findet sich
also auch hier. Sie ist bis heute ein Grundelement des
Bevölkerungsdiskurses - und eben nicht nur desjenigen Teils, der die
Eugenik befürwortet.
Das mindestens fremdenfeindliche und immer klassenspezifische Moment in dem
ansonsten aufgeklärten Lager der Demografen und ihrer Multiplikatoren
herauszuarbeiten, ist das Verdienst der Studie. Der Vergleich mit Schweden
ist daher ein cleverer Schachzug. So fügt die aufgrund des Humors des
Autors auch unterhaltsame Studie der Kritik an der stets wiederkehrenden
Rede vom Kinderkriegen als Allroundlösungspaket etwas Wichtiges hinzu:
Nicht erst die Eugenik disqualifiziert die Demografie als Wissenschaft. Das
Problem beginnt weit früher. Denn die Demografie repräsentiert - und dies
über die Epochen hinweg - im Wesentlichen eine bürgerlich-akademische
Schicht, die "ihren Lebensraum und ihre Lebensweise" bedroht sieht und ihre
Interessen in der Rede von einer unnatürlichen Entwicklung naturalisiert.
Auch ohne Option für eine Rassenhygiene formuliert sie einen
Klassendiskurs. Frank Schirrmacher und Ursula von der Leyen sind hierfür
beredte Beispiele.
Aktuell ist wiederum der Blick nach Schweden erhellend. Denn heute ist dort
der Umstand, dass sich hier die niedrigste Geburtenrate Nordeuropas findet,
kein Indiz mehr für den Niedergang. Die Akademiker bekommen relativ gesehen
viele Kinder, die Überalterung gilt nicht mehr als desaströs, sind die
Alten doch gesünder und arbeiten länger. Da sich auch die Akzeptanz von
Migranten verbessert hat, fehlt in Schweden gegenwärtig der Humus für den
hierzulande noch so beliebten demografischen Alarmismus.
14 Aug 2007
## AUTOREN
Ines Kappert
Ines Kappert
## TAGS
Demografischer Wandel
Akzeptanz
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