Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kriminalität der Drogenkartelle: Mexiko im Strudel der Gewalt
> Die Gewalt der Drogenkartelle kostet weiter zivile Opfer. Präsident López
> Obrador wollte auf Sozialprogramme setzen – jetzt schickt er die Armee.
Bild: Militär am Flughafen von Tijuana, Mitte August
Oaxaca taz | Montserrat Caballero richtete sich mit versöhnlichen Worten an
die kriminellen Kartelle. „Wir bitten Sie, Ihre offenen Rechnungen von
denen zu kassieren, die Ihnen etwas schuldig sind, und nicht von den
Familien, den arbeitenden Bürgern“, sagte die Bürgermeisterin der
mexikanischen Stadt Tijuana jüngst in einer auf Facebook übertragenen
Videobotschaft.
Zuvor hatten Banden der Organisierten Kriminalität Supermärkte angezündet,
Autos abgefackelt und Straßen blockiert. Vorübergehend stand die Metropole
an der US-Grenze still. In vier weiteren Städten des nördlichen
Bundesstaates Baja California kam es zu ähnlichen Angriffen. Verantwortlich
waren, so Verteidigungsminister Luis Sandoval, das Sinaloa-, das Tijuana-
und das Jalisco-Kartell – drei große Mafiaorganisationen, die um die
Kontrolle der strategisch wichtigen Region kämpfen.
Das war Mitte August. Tage zuvor hatten Kommandos des Jalisco-Kartells in
mehreren Städten Zentralmexikos Einkaufsläden, Tankstellen und Fahrzeuge
angegriffen. Auch in Ciudad Juárez eskalierte die Gewalt. Eine
Auseinandersetzung zweier Banden im Gefängnis weitete sich auf die
Grenzstadt aus. Läden gingen in Flammen auf, Busse brannten. Neun
Unbeteiligte starben durch Schüsse der Kriminellen: ein Kind,
Passant*innen, [1][Journalist*innen]. Eine Woche später brannten erneut
Fahrzeuge, nachdem im Bundesstaat Colima ein Chef des Jalisco-Kartells
verhaftet wurde.
Tijuanas Bürgermeisterin hat mit ihrer Bitte an die Kriminellen sicher den
verzweifelten Realismus vieler Mexikaner*innen auf den Punkt gebracht.
Doch trotz der Gewalt, mit der die Menschen schon lange leben, haben die
jüngsten Attacken das Thema Narco, wie die Mafia genannt wird, erneut auf
die Tagesordnung gesetzt. Kommentator*innen sprechen vom
„Narcoterrorismus“.
## Der Präsident kämpft um sein Image
Präsident [2][Andrés Manuel López Obrador] erklärte, der Angriff auf die
Zivilbevölkerung als repressives Mittel sei neu. Das entspricht angesichts
des Terrors, mit der die Kriminellen viele Regionen kontrollieren, nicht
der Realität. Doch die Willkürlichkeit der Opfer hat unübersehbar vor Augen
geführt, dass López Obradors Strategien zur Eindämmung der Kriminalität
gescheitert sind.
Der Staatschef, oft AMLO genannt, weist solche Vorwürfe zurück. Wie immer,
wenn er kritisiert wird. Ob es um Einwände von Indigenen gegen den Bau des
Touristenzuges „[3][Tren Maya]“ auf der Halbinsel Yucatán, seine Politik
der Migrationseindämmung oder seine auf fossile Brennstoffe ausgerichtete
Energiepolitik geht – für den sich links verstehenden Präsidenten stecken
hinter jeder Kritik „konservative Kräfte“, die ihn stürzen wollen.
Folglich warf er seinen Gegner*innen und den Medien vor, die Angriffe
hochzuspielen, um eine Stimmung der Angst zu erzeugen.
Verteidigungsminister Sandoval erklärte: „Die föderale Sicherheitsstrategie
zeigt Ergebnisse.“ Die Organisierte Kriminalität sei geschwächt und müsse
deshalb nun in der Öffentlichkeit Stärke demonstrieren.
Eine gewagte Einschätzung. Zwar gibt es, staatlichen Statistiken zufolge,
in einzelnen Bereichen etwas weniger kriminelle Delikte, doch von einer
Schwächung kann nicht die Rede sein. Täglich werden durchschnittlich
hundert Menschen umgebracht, das Verschwindenlassen hat in AMLOs Amtszeit
um fast ein Drittel zugenommen.
## Vom Versprechen, das Militär zurückzuziehen, ist nichts übrig
López Obrador bezeichnet das als sein „neoliberales Erbe“ und hat nicht
Unrecht: Tatsächlich haben Menschenrechtsverletzungen massiv zugenommen,
seit sein Vorvorgänger Felipe Calderon 2006 [4][der Mafia den Krieg
erklärt] hat. Die Mordrate ist seither von 9,7 auf 29 pro 100.000
Einwohner*innen angestiegen. Und während zwischen 2000 und 2006
insgesamt 904 Menschen verschwanden, waren es von 2006 bis heute fast
84.000.
Deshalb wollte AMLO Schluss machen mit diesem Krieg, als er 2018 ins Amt
gewählt wurde. „Wir brauchen keine Armee auf den Straßen“, erklärte er u…
proklamierte „abrazos, no balazos“ – „Umarmungen statt Schüsse“. Das
militärische Vorgehen sollte in den Hintergrund rücken. Umfangreiche
Sozialprogramme, die sich mit seinem Ansatz der gerechteren Verteilung des
gesellschaftlichen Reichtums decken, sollen Armen ein Auskommen bieten und
sie davon abhalten, sich kriminellen Banden anzuschließen.
So unterstützt das Programm „Jugendliche schaffen ihre Zukunft“ junge
Männer und Frauen, sich in den Arbeitsprozess einzugliedern. Das Projekt
„Leben säen“ bietet der Landbevölkerung Gelder an, um die kleinbäuerliche
Produktion zu stärken. Ob diese Transferleistungen die Gewalt verringern,
ist umstritten. Bestenfalls tragen sie langfristig Früchte. AMLO, dessen
Amtszeit 2024 endet, wird sie kaum ernten.
Vom Versprechen des Präsidenten, das Militär in die Kasernen
zurückzuziehen, ist dagegen nichts geblieben. Im Gegenteil: Die von López
Obrador explizit als Polizeieinheit gegründete Nationalgarde will er nun
dem Verteidigungsministerium unterstellen. Zugleich hat er der Armee
zunehmend zivile Aufgaben übertragen. Sie ist nun für den Bau des Tren Maya
zuständig, betreibt Flughäfen und erledigt Aufgaben der öffentlichen
Sicherheit. Gemeinsam mit Nationalgardisten gehen Soldaten [5][gegen
Migrant*innen] vor, die durch Mexiko Richtung USA reisen.
## Menschenrechtsverletzungen durchs Militär
Das hat zu schweren Menschenrechtsverletzungen geführt. „Sie betrachten
Wanderarbeiter und Geflüchtete als Feinde“, erklärt Yuiría Salvador von der
NGO „Fray Matías de Córdova“, die an der guatemaltekischen Grenze arbeite…
Eine Studie der Stiftung für Gerechtigkeit und demokratischen Rechtsstaat
(FJEDD) kritisiert, dass es zu vielen willkürlichen Verhaftungen,
sexualisierter Gewalt und illegalen Abschiebungen gekommen sei.
Zehntausende Uniformierte sind im Einsatz, rund 850.000 Schutzsuchende
wurden FJEED-Schätzungen zufolge gestoppt. „Der große politische und
wirtschaftliche Einfluss der USA führt zu dieser Eindämmung der Migration
unter großer Beteiligung des Militärs“, heißt es in der Untersuchung.
Tatsächlich hat López Obrador diese vorgelagerte US-Grenze wegen des Drucks
aus Washington errichtet. Doch auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen
hat die Militarisierung fatale Folgen. Das bestätigt nicht nur die tödliche
Bilanz des „Krieges gegen die Mafia“. Weiterhin sterben Unbeteiligte durch
Waffen der Militärs. In vielen Gemeinden schürt die Präsenz von Soldaten
große Ängste, zumal die Uniformierten häufig mit den Narcos kooperieren.
Zugleich halten sich die Erfolge in Grenzen: 2019 mussten Soldaten den Sohn
des inhaftierten Mafiachefs [6][El Chapo] wieder freilassen, nachdem
Kommandos in der Stadt Culiacán Fahrzeuge in Brand setzten, wild um sich
schossen und damit drohten, Angehörige von Militärs zu töten. Im
Bundesstaat Michoacán müssen die Streitkräfte immer wieder den Kriminellen
weichen.
## Das Militär verfügt über große Macht
Menschenrechtsverteidiger fordern deshalb, dass López Obrador die Soldaten
in die Kasernen zurückzieht. So auch Jacobo Dayan. Der Experte für
internationales Strafrecht hatte vor AMLOs Amtsübernahme mit der angehenden
Regierung alternative Sicherheitsstrategien erarbeitet. Davon wollte der
Präsident aber später nichts mehr wissen.
Dayan geht davon aus, dass kriminelle Netzwerke den Staat und seine
Institutionen gekapert haben. Um diese Strukturen anzugehen, sei es nötig,
Mechanismen zur Wahrheitsfindung zu entwickeln und die Straflosigkeit zu
überwinden. „Begleitend müssen zivile Polizeikräfte gestärkt werden, damit
man nach und nach die Armee aus den Sicherheitsaufgaben zurückziehen kann,“
so Dayan. „Und es braucht Programme zur Entwaffnung, Demobilisierung und
gesellschaftlichen Reintegration von Menschen, die in die kriminellen
Gruppen eingebunden sind.“
Das steht nicht in allen Punkten im Widerspruch zu López Obrador. Wo es ihm
politisch opportun erscheint, ist er wie etwa im Fall der 2014 von
Kriminellen und Polizisten verschleppten [7][43 Studenten] zu jeder
Unterstützung bereit. Doch die Tür, die er der Armee geöffnet hat, besser
gesagt, öffnen musste, wird er nicht mehr schließen. Denn das Militär
verfügt über große Macht.
Das zeigte sich etwa im Fall Salvador Cienfuegos. Der
Ex-Verteidigungsminister war in den USA verhaftet worden, weil er mit einem
Kartell kooperiert haben soll. Dafür hat die US-Antidrogenbehörde DEA
einschlägige Beweise. López Obrador gelang es, dass Cienfuegos nach
Mexiko ausgeliefert wurde. Dort setzten ihn die Behörden auf freien Fuß –
mit einer juristischen Verfolgung wird der General a.D. kaum noch rechnen
müssen.
## Wer den Präsidenten kritisiert, erntet Beschimpfungen
Der Fall Cienfuegos ist außergewöhnlich, die Straflosigkeit ist es nicht.
Über 90 Prozent aller Gewalttaten bleiben juristisch ungesühnt. Dass López
Obrador dennoch behauptet, „es gibt keine Straflosigkeit mehr“, entspricht
seiner programmatischen Ignoranz der Realität, um das Bild zu bestätigen,
das er in seinen täglichen Pressekonferenzen ständig zeichnet: „Wir sind
nicht wie unsere neoliberalen Vorgänger.“
Wer diese Wahrnehmung infrage stellt, erntet schnell aggressive
Beschimpfungen: Feministinnen, die mehr Initiativen gegen Frauenmorde
einklagen, Umweltschützer*innen, die sich gegen eine Raffinerie wehren oder
Journalist*innen, die die Besetzung von Machtpositionen mit ihm
wohlgesonnenen Politiker*innen kritisieren.
Anstatt auf die beeindruckende Zivilgesellschaft des Landes zu bauen, setzt
der Präsident auf eine konservative Politik des paternalistischen Staates,
in dem er die Vaterfigur abgibt. Und das nicht ohne Erfolg: 67 Prozent der
Bevölkerung stehen hinter ihm. Die Kommunikationsstrategie der Lüge und des
Zynismus, wie Jacobo Dayan das Auftreten des Präsidenten bezeichnet,
scheint aufzugehen.
25 Aug 2022
## LINKS
[1] /Journalistinnenmorde-in-Mexiko/!5829439
[2] /Amtsantritt-von-Lopez-in-Mexico/!5551520
[3] /Geplante-Maya-Bahn-durch-Mexiko/!5791061
[4] /Drogenkartelle-in-Mexiko/!5112798
[5] /Kommentar-USA-und-Mexiko/!5601487
[6] /Strafmass-fuer-Joaquin-Guzman-verkuendet/!5612369
[7] /In-Mexiko-verschwundene-Studenten/!5875809
## AUTOREN
Wolf-Dieter Vogel
## TAGS
Mexiko
Gewalt
Drogenkrieg
Andrés Manuel López Obrador
Militär
Nationalgarde
Menschenrechte
Mexiko
Schwerpunkt Abtreibung
Ecuador
Mexiko
El Chapo
Mexiko
Mexiko
Mafia
Kolumne Latin Affairs
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nach den Wahlen in Mexiko: Von Banden und Journalisten
Journalisten leben in Mexiko gefährlich. Ob die neu gewählte Präsidentin
Sheinbaum daran etwas ändern kann, ist fraglich. Gedanken über einem
Meskal.
Legalisierung der Abtreibung in Mexiko: Fortschrittlicher als die USA
Mexiko legalisiert Abtreibung und schließt sich damit einem Trend in
Lateinamerika an. Doch das neue Recht bleibt fragil.
Nach Mord an Politiker in Ecuador: Schuldige schnell ermittelt
Kurz nach dem Tod des Präsidentschaftskandidaten präsentiert die Regierung
Ermittlungsergebnisse. Auftraggeber könnte ein Kartell sein.
US-Präsident in Mexiko: Bidens Balanceakt
Es wurde Zeit, dass ein US-Präsident wieder Mexiko besucht. Die USA sollten
sich eingestehen, dass sie auf Migration aus dem Süden angewiesen sind.
Drogenkartelle in Mexiko: 29 Tote nach Festnahme
In Mexiko haben Sicherheitskräfte Ovidio Guzmán, einen der Söhne des
Drogenbosses „El Chapo“ gefasst. Die Folge sind heftige
Auseinandersetzungen.
Krieg verfeindeter Banden in Mexiko: Massaker bei Gefangenenbefreiung
Beim Angriff auf ein Gefängnis im mexikanischen Ciudad Juárez werden 14
Menschen getötet. 24 Gefangene entkommen, darunter ein Bandenchef.
Zerstörungen durch Naturgewalten: Schweres Erdbeben in Mexiko
Ein Beben der Stärke 7,6 hat die Bundesstaaten Michoacan und Colima
erschüttert. In der Dominikanischen Republik richtete ein Hurrikan
Verwüstungen an.
Jalisco-Kartell in Mexiko: Mafia bedroht Medien
In Mexiko droht ein Drogenkartell einer Nachrichtensprecherin mit dem Tod.
Der mexikanische Präsident sagte ihr Schutz zu.
Politik und Drogenbosse, real und medial: Der reale Higuera Sols
Ein mexikanischer Ex-Sicherheitsminister wurde wegen der Zusammenarbeit mit
dem Sinaloa-Kartell verhaftet. Sein Pendant gab es schon auf Netflix.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.