Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neues Album von Yr Lovely Dead Moon: Die Vielfalt dystopischer Mome…
> Erst bestellte sie Saatgut für Gemüse, dann entdeckte sie das Potential
> von Szenen des Untergangs. So entstand das neue Album von Rachel
> Margetts.
Bild: Rachel Margetts alias Yr Lovely Dead Moon
Die britische Künstlerin Rachel Margetts ist begeisterte Leserin und
verschlingt Romane, Historisches und Theorie. Tatsächlich steht am Anfang
fast eines jeden Songs, den sie unter ihrem Alias Yr Lovely Dead Moon
veröffentlicht, eine Idee, die sie sich durch Lektüre erschlossen hat.
Concept first, sound second, so könnte man Margetts Ansatz beim Musikmachen
zusammenfassen – wobei die Klangwelten dabei alles andere als nachrangig
wirken.
„Don’t Look Now!“, ihr zweites Album, ist ein eigenwilliges Amalgam aus
verspulter Elektroakustik, schneidenden Beats und Collagen in der Art der
Musique concrète; angereichert ist der Mix der Wahlberlinerin mit jazzigen
Elementen und Hypnagogic Pop.
Bei jedem Hören offenbaren sich aus den Klangschichten neue Details. Im
Fall von „Sun Dance“, dem Eröffnungstrack, steht am Anfang eine private
Anekdote: „Es klingt bizarr: Kurz vor der Pandemie durchlebte ich eine
schwierige Zeit – und war davon überzeugt, das Ende der Welt stünde bevor.
Ich machte Dinge, die seltsam waren, zumindest für mich. So habe ich viel
Saatgut bestellt, um Gemüse anbauen zu können.“
## Funktion der Apokalypse
Nach dieser persönlichen Krise habe sie sich gefragt, welche Funktion
apokalyptische Vorstellungen erfüllen für Individuen und Gesellschaften:
der Ausgangspunkt einer vielschichtigen Betrachtung. Über den Song, der so
entstand und nach sanftem Einstieg fast einen Sog entwickelt, angetrieben
von geklöppelten Beats und sphärischem Gesang, erzählt sie, dass er nicht
zuletzt auch von der Apathie handele, die sich vielerorts beobachten lasse
– und die (zumindest gefühlt) proportional zur schlimmen Nachrichtenlage
ansteige. „Oh we’re eating ourselves / Cos we’re only human / Even if you
don’t want it (and no, I don’t want it)“, singt sie.
Es gebe, so glaubt die Künstlerin, in unserer Gesellschaft eine Obsession
des Untergangs. „Und ich frage mich, ob es genau dieses Narrativ ist, dass
es uns erlaubt, passiv zu bleiben. Statt uns im Hier und Jetzt zu
positionieren, stellen wir uns das Ende vor.“
Zugleich sei sie bei ihrer Recherche auf historische Szenarien gestoßen,
bei denen die Vorstellung eines drohenden Untergangs Energien freigesetzt,
Veränderung erst möglich gemacht habe.
Sie erzählt von „Caliban und die Hexe“ (2004), einer Analyse der
[1][politischen Philosophin Silvia Federici,] die sich darin unter anderem
mit protofeministischen und protokommunistischen Sekten im 13. Jahrhundert
beschäftigt. Außenseiter*innen, die sich dort zusammengetan hätten,
hätten sich ebenfalls kurz vor einer Apokalypse gewähnt: „Die Vorstellung
war für sie schon deshalb wichtig, weil nur durch eine solche Zäsur eine
Zukunft möglich wurde, die sie mitgestalten konnten.“
## Unerwartete Perspektiven suchen
Alternative Perspektiven auf Themen zu entwickeln, lost histories
auszugraben fasziniert die 29-Jährige, die seit 2015 in Berlin lebt und
seither auch viel in Osteuropa unterwegs ist. Zuvor hatte sie in
Südengland Kunstgeschichte studiert und in Manchester gelebt, wo sie
einen Fine-Arts-Grundlagenkurs absolvierte. Inzwischen steht bei ihr die
Musik im Mittelpunkt.
Bei diesem zweiten Album sei ihr Anliegen gewesen, erzählt Margetts, Ideen
aufzufächern – statt wie auf dem Vorgänger Erwartungshaltungen von
Hörer:innen bewusst zu unterlaufen. Liest sich verkopft, klingt aber
nicht so. Bisweilen geradezu dreampoppy wirkt Margetts Sound. Aus
dystopischen Momenten ihres Konzepts generiert sie Vielstimmigkeit.
Atmosphärisch vergleichsweise homogen wirkt der polyrhythmische Track
„Terror“, bei dem schneidend kalte Sounds in eine mäandernde Melodie
grätschen – eine Umsetzung der Ausgangsidee, die stimmig wirkt. Der Song,
so Margetts, handele davon, wie schwierig es sei, sich in einer zunehmend
komplexen Informationswelt zurechtzufinden. Aber auch davon, „Wahrheit aus
Falschinformation zu filtern“.
Obwohl das Album gerade mal eine halbe Stunde dauert, passiert darauf viel,
bisweilen etwas zu viel. Einige Passagen wirken überfrachtet. Doch nach ein
paar Durchgängen fügt sich die Musik von Yr Lovely Dead Moon zum
geschmeidigen Ganzen. Man darf gespannt sein, was Margetts sich als
Nächstes vornimmt.
5 Aug 2022
## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!552063&s=Silvia+Federici&SuchRahmen=Print/
## AUTOREN
Stephanie Grimm
## TAGS
Pop
Neues Album
Dystopie
Berlin
Musik
taz Plan
taz Plan
Free Jazz
Free Jazz
Neues Album
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debütalbum „Lamina“ der Band Pirx: Korallen in Indie-Gewässern
Musik und Geologie: Fragen sie nicht beide, was die Welt zusammenhält? Für
die Musiker:innen der Band Pirx aus München liegt das auf der Hand.
Neue Musik aus Berlin: Subtile Widerhaken
In „Cusp“, dem Debüt des Avant-Pop-Duos Twin Tooth, stecken entspannte
Kühle, nuancierte Experimente und die ein oder andere gut platzierte
Irritation.
Konzertempfehlungen für Berlin: Musik für das Publikum
Gendergerecht und inklusiv meldet sich das Popkultur Festival zurück. Der
Kiezsalon startet eine neue Reihe in der galerie weisser elefant.
Neue Bücher über Freejazz: Konzeptionelle Grenzüberschreitung
Schlaglichter des Freejazz: Drei Buch-Neuerscheinungen richten den Blick
auf Szenegrößen in den USA, Deutschland und Schweden.
Neues Album von Freejazzer Rolf Hansen: Die Axt ohne Klischees
Der dänische Freejazz-Gitarrist Rolf Hansen veröffentlicht „Tableau“, ein
Album, mit dem er das Klangspektrum seines Instruments kreativ erweitert.
Katalanische Sängerin Marina Herlop: Ineinander fallende Fantasiegebilde
In ihrem dritten Album „Pripyat“ wagt sich die katalanische Musikerin
Marina Herlop auch in die ihr bislang fremde Klangwelt der Musik-Software.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.