# taz.de -- Mitgefühl in der Klimakrise: Ich werde zum See und kippe um | |
> Mitgefühl mit Menschen und Tieren ist einfach – doch mit Gewässern? | |
> Vielleicht hilft es, sich zu erinnern, dass Menschen vorwiegend aus | |
> Wasser sind. | |
Bild: Warum fällt es so schwer, Mitgefühl mit Gewässern zu haben? | |
Mittwochmorgens an einem späten Julitag des 21. Jahrhunderts – aka die | |
Zeit, in der die Menschheit angesichts des Ultimatiums „Revolution [1][oder | |
Weltuntergang]“ in eine Schockstarre verfallen ist – fand ich mich in ein | |
heimisches Gewässer verwandelt. Eigentlich nicht verwunderlich. Ein Mensch | |
kann durchaus den Aggregatzustand wechseln, das passiert ganz zu Beginn des | |
Lebens bei der Entstehung und nach dem Ende beim Verfall des Körpers. | |
Bevor ich ein Gewässer wurde, war ich eine Stadtbewohnerin, die ein paar | |
Tage rausgefahren ist, um [2][jeden Morgen im See] zurück in meine eigene | |
Haut zu fahren. Wie eine Schlange im Rückwärtsgang. Hoffentlich kippen die | |
Seen nicht alle, hat L neulich gesagt. | |
Und ich frage mich, warum ich kein echtes Mitgefühl mit einem Gewässer | |
habe. Warum ein gekippter See mich vor allem schmerzte, weil ich nicht mehr | |
in ihm schwimmen könnte. | |
Ich. Ich kann mich gut in Menschen hineinversetzen, es wird nur | |
anstrengender, je größer das Volumen an Entsetzlichkeit wird, das man im | |
Laufe der Jahre in sich selbst und in anderen findet. Mitgefühl mit Tieren | |
geht auch, wobei da ein eher zufälliges Spektrum in „modernen“ | |
Gesellschaften herrscht, wo Hund und Schwein die besten Freunde des | |
Menschen sind, aber auf sehr unterschiedliche Art. | |
Ich kann auch vertrocknete Balkonpflanzen betrauern. Aber: Dass der Aralsee | |
ausgetrocknet ist, finde ich schlimm, weil das schlimm zu finden ist. | |
Gedacht, nicht gefühlt. Wir wissen alles über das Leiden des Planeten, | |
fühlen es aber nicht. Der Klimaschützer George Marshall schrieb 2014 über | |
diese emotionale Lücke, Greta Thunberg forderte 2019: „I want you to | |
panic“, und indigene Gemeinschaften wissen das alles sowieso schon sehr | |
viel länger. | |
## Klar und voller Poesie | |
Zivilisiert, Adjektiv: 1. moderne [westliche] Zivilisation habend. 2. | |
Zivilisation habend oder zeigend; gesittet, kultiviert „ein äußerst | |
zivilisierter Herr“. Wir brauchen dringend eine andere Zivilisation, denkt | |
der See und spiegelt graue Wolken. | |
Eine, die sich nicht beherrschen will, die nicht biegt, bis die Dinge | |
brechen, die das „Weiter so“ ein paar weniger nicht über die Existenz aller | |
anderen stellt. Die mich nicht kippen und die Nachwelt nicht fallen lässt. | |
Ein Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nannte eines meiner Nachbargewässer | |
„klar und voller Poesie“. Damals gab es zehn Meter Sicht Richtung Grund, | |
heute sind es eher zwei. Könnte sein, dass mit der Klarheit des Wassers | |
auch die Poesie verschwindet, dass sie herausfällt, wenn wir kippen. | |
Bei der Geburt bestehen Menschen zu 80 Prozent aus Wasser, danach kämpfen | |
sie gegen das Austrocknen. In Pakistan messen sie im Mai 52 Grad, [3][in | |
Sachsen ziehen sie Totholz] auseinander, im Irak [4][trocknet der Sawa-See | |
aus]. | |
Über mir fliegen Löschhubschrauber, und der DFB-Fanclub fliegt für jedes | |
WM-Spiel zwischen Dubai und Katar hin und her, na klar. Zivilisation, | |
fühlst du noch was? Ach, be water and stay hydrated, my friends. | |
3 Aug 2022 | |
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[3] /Waldbraende-in-Deutschland/!5871109 | |
[4] https://www.nzz.ch/fotografie/klimawandel-im-irak-trocknet-ein-historischer… | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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