| # taz.de -- Verfassungsreferendum in Tunesien: Vom Präsidenten zum Autokraten | |
| > In Tunesien lässt Präsident Saied über ein Verfassungsreferendum | |
| > abstimmen. Es verschafft ihm mehr Macht und den Menschen ein wenig | |
| > Basisdemokratie. | |
| Bild: Proteste gegen das Referendum in Tunis | |
| Tunis taz | Neun Millionen wahlberechtigte Tunesier sind am Montag | |
| aufgerufen, über einen Verfassungsentwurf des Präsidenten Kais Saied | |
| abzustimmen. Der würde ihn zu einem autoritären Herrscher über Regierung | |
| und Justiz machen, aber gleichzeitig auch eine Art Basisdemokratie | |
| schaffen. | |
| Anfang Juli stellte Saied der Öffentlichkeit seinen Entwurf vor. Die | |
| ursprünglich mit der Erarbeitung beauftragte Verfassungskommission lehnte | |
| vor allem die darin enthaltene präsidiale Allmacht ab. | |
| Nach Saieds Vorstellungen sollen in den Gemeinden Repräsentanten gewählt | |
| werden, die diese in einem eher repräsentativen Parlament vertreten würden. | |
| Die von Saied verhassten politischen Parteien würden nur noch eine | |
| untergeordnete Rolle spielen. Ende Juli des vergangenen Jahres hatte der | |
| 64-jährige Saied das [1][Parlament in den Zwangsurlaub geschickt] und die | |
| Regierung von Premier Hichem Mechichi entlassen. | |
| Für die meisten Vertreter der Zivilgesellschaft war die Absetzung der | |
| demokratischen Institutionen und die folgende Entlassung mehrerer | |
| Gouverneure, Richter und hoher Beamter ein lupenreiner Putsch. Angebliche | |
| Islamisten und korrupte Geschäftsleute sind bis heute mit Reiseverboten | |
| belegt. Seither regiert Saied mit Dekreten und lässt die von ihm im Januar | |
| eingesetzte Premierministerin Najla Bouden und ihre Minister regelmäßig | |
| zum Rapport im Präsidentenpalast antreten. | |
| ## „Seit dem Ende der Diktatur nichts verändert“ | |
| Der 2019 gewählte Saied nutzte die steigende Wut der Tunesier auf die | |
| politische Elite, um sein Basisdemokratie-Projekt zu fördern. Er bewirbt es | |
| seit der Revolution im Jahr 2011. In mehreren Städten stürmten nach der | |
| Rede Saieds im vergangenen Juli Mobs die Büros der verhältnismäßig | |
| moderaten Islamistenpartei Ennahda. Die von vielen westlichen politischen | |
| Analysten für ihre Kompromissbereitschaft gelobte Partei wird vor allem im | |
| vernachlässigten Südwesten Tunesiens und in den Armenvierteln der | |
| Hauptstadt Tunis für den Niedergang des demokratischen Tunesiens | |
| verantwortlich gemacht. | |
| Denn die unter der Herrschaft des Ex-Autokraten Zine Ben Ali ins Exil | |
| gedrängte Parteiführung nutzte ihre zunächst überwältigende Zustimmung und | |
| Beteiligung an allen neun Regierungen seit 2011 dazu, ihre Parteisoldaten | |
| an Schaltstellen in Ministerien, Behörden und Gemeinden zu platzieren. | |
| „Bei uns hat sich seit dem Ende der Diktatur nichts verändert“, sagt Kais | |
| Bouazizi, ein Cousin des weltberühmt gewordenen Studenten [2][Mohamed | |
| Bouazizi], der mit seiner Selbstverbrennung im Dezember 2010 in der | |
| zentraltunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid [3][den arabischen Frühling] | |
| ausgelöst hatte. Bouazizi besitzt dort ein Café. Er lasse viele seiner | |
| Kunden anschreiben, denn nach der jüngsten Explosion der Lebensmittelpreise | |
| könnten diese sich nicht mal mehr einen Kaffee leisten, erzählt der | |
| 33-Jährige. | |
| Bouazizi war, nach dem Tod seines Cousins und den folgenden | |
| Massenprotesten, wie damals viele ein Anhänger der Ennahda, die frischen | |
| politischen Wind versprach. Doch statt für Investitionen und Demokratie zu | |
| kämpfen, sei die ehemalige Opposition ein Teil der Elite geworden, schimpft | |
| er. | |
| ## Wahlbeobachter rechnen mit geringer Wahlbeteiligung | |
| Imen ben Ghozzi hat Saied, der eigentlich Jura-Professor ist, über Jahre | |
| auf seiner Diskurs-Initiative in die Provinz Tunesiens begleitet. „Ich | |
| halte ihn für einen aufrechten Mann, der nicht im Eigennutz handelt. Allein | |
| das macht ihn für viele zu einem Hoffnungsträger“, sagt sie. Doch seine | |
| Kommunikation mit der Öffentlichkeit sei katastrophal. „Eine neue | |
| Verfassung muss im gesellschaftlichen Konsens, und nicht von einem Mann | |
| alleine reformiert werden. Daher lehne ich die Volksabstimmung ab“, so die | |
| Verwaltungsangestellte aus Tunis. | |
| Wahlbeobachter rechnen mit einer niedrigen Beteiligung. Auch in Tunesiens | |
| Diaspora ist diese gering. Mit knapp fünf Prozent liegt sie in Deutschland | |
| bisher etwas höher als in anderen europäischen Ländern. Für | |
| Auslands-Tunesier hat das Referendum bereits am Samstag begonnen. Da Saied | |
| aber schon eine einfache Mehrheit reicht, könnte die neue Verfassung am | |
| Dienstag dennoch in Kraft treten. | |
| Selbst in Tunis konnte die zersplitterte Opposition am Wochenende nur | |
| wenige hundert Anhänger mobilisieren. Polizeieinheiten sperrten die | |
| getrennt stattfindenden Proteste ab und verhafteten einzelne | |
| Demonstrierende. Den mit Einkäufen beschäftigten Passanten waren die Szenen | |
| nicht einmal einen Blick wert. | |
| 25 Jul 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Tunesiens-Praesident-verlaengert-Dekret/!5795188 | |
| [2] https://www.aljazeera.com/features/2020/12/17/remembering-mohamed-bouazizi-… | |
| [3] /Justiz-in-Tunesien/!5739167 | |
| ## AUTOREN | |
| Mirco Keilberth | |
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