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# taz.de -- Brezel Göring veröffentlicht Debütalbum: Solo mit 55
> Es steht im Bann von Partnerin Françoise Cactus, mit der er als Stereo
> Total viele Jahre zusammenspielte: Brezel Görings Album „Psychoanalyse
> Vol. 2“
Bild: Sieht man hier nicht, aber: Brezel Göring trägt blaues Haar, er ist imm…
Knapp 30 Jahre waren Brezel Göring und Françoise Cactus so etwas wie die
subkulturelle Hauptschlagader von Kreuzberg. Stereo Total, ihre gemeinsame
Trash-/Punk-/Elektropopband, vermittelte das Lebensgefühl dieses
Westberliner Stadtteils: Anarchisch und abgefuckt, spontihaft und schräg,
hart, aber herzlich kam das Duo daher.
Eine Hälfte ist nun verstummt: [1][Françoise Cactus starb im Februar 2021]
an Krebs. Der andere Teil, ihr langjähriger Partner Brezel Göring, hat nun
mit „Psychoanalyse Vol. 2“ eine Art Abschieds- und Neuanfangsalbum
zugleich vorgelegt – sein Debütsoloalbum. Im Titelstück ist Cactus noch mal
zu hören (es war die letzte gemeinsame Aufnahme), und man kann schon ein
Tränchen verdrücken, wenn sie zum jazzigen Rhythmus und zu twangy Gitarren
in ihrem unnachahmlichen französischen Akzent singt: „Du siehst bedrückt
aus / dabei bist du nur verrückt / Nichts, was eine Analyse / in Windeseile
geraderückt / Du brauchst keine Gummizelle / Du brauchst keine Medizin /
Hier ist die Behandlungsliege / entspann dich und leg dich hin.“
## Eine beruhigende Wirkung
Wie eine Therapie hat Brezel Göring auch die Arbeit an den Songs erlebt. Im
April 2021 fuhr er nach Parentis-en-Born in Südfrankreich und lebte dort
mehrere Monate allein in einem riesigen Haus. Irgendwann fing er an Songs
zu schreiben. „Erst mal habe ich die Lieder und Texte nur für mich
geschrieben, die waren ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedacht“,
sagt er im Interview, „es hatte eine beruhigende und befriedigende Wirkung,
diese Songs zu komponieren und zu spielen.“
Dass Punk ihn geprägt hat, ist offensichtlich: Göring trägt blau gefärbte
Haare, blau lackierte Fingernägel, Public-Enemy-Shirt und Baseballcap. Das
Gespräch findet in einer Eckkneipe am Mariannenplatz statt. Göring ist ein
offener, kommunikativer Typ, erzählt drauflos.
Gebürtig ist Hartmut Ziegler – so sein bürgerlicher Name – aus Hessen. 19…
zog er nach Westberlin und ist heute, mit 55 Jahren, ein Kreuzberger
Faktotum.
## Françoise Cactus ist noch präsent
Bei Stereo Total gab Brezel Göring den Sidekick von Françoise Cactus und
flippte an den Synthesizern rum, er war der ADHS-Part der Band. Musikalisch
klingen seine Eigenkompositionen durchaus überraschend: es sind ruhige, zum
Teil ultramelancholische Songwriter- und Chanson-Tracks, gelegentlich mit
Country-/Americana-Einschlag und Sixties-Orgelsound. Die Instrumentierung
besteht meist aus Synthies, Gitarren und Drums, die im langsamen Walzer-
oder Swingrhythmus anrollen. Dazu singt Brezel Göring mit schüchterner,
zurückhaltender, verletzlicher Stimme.
Françoise Cactus, so sagt er, sei direkt oder indirekt noch sehr präsent
auf seinem Album. „Bei manchen Liedern habe ich natürlich an sie gedacht.
Oder ich habe mich daran erinnert, wie wir zusammen über Musik gesprochen
haben.“ Er selbst habe zuvor nicht gern Texte geschrieben, einige Tipps von
ihr hätten ihm jetzt geholfen. „Sie hat mir zum Beispiel gesagt: Wenn du
ein Wort gefunden hast, das gut klingt, wiederhol es einfach möglichst
oft.“
Den Ratschlag hat Göring sich gleich in dem schwelgerischen Auftaktstück
„Défoncé“ zu Herzen genommen, dem einzigen auf Französisch gesungenen So…
„Défoncé“ kann „beschädigt“ und „bekifft“ zugleich heißen, die …
Songs spielen mit dieser Doppelbedeutung. Darüber hinaus finden sich zum
einen die schon angesprochenen melancholischen Abschiedsstücke auf dem
Album. So singt Göring in „Sanfter Wahn“ mit traurigem, belegtem Timbre:
„Schade, dass du weg bist / Ich hätt dir gerne noch öfter zugehört / Die
Straßen sind immer noch dieselben / Aber der Rest ist ziemlich ramponiert.“
## Liebe als Droge
Neben der Melancholie gibt es auch sehr lustige Momente. Das sixtiesmäßig
plätschernde „Opel Kapitän“ etwa ist eine witzige, rührende Geschichte �…
die Liebe unter Außenseiter:innen. Göring singt gut gelaunt: „Sie war klein
und versoffen und süß und lustig / Und immer auf irgendwas / Ein Goldstück,
das nur für mich geglänzt hat / Für die Welt war der Anblick nicht schön /
Wie ein stark zerbeulter 1967er Opel Kapitän.“ Ein weiteres Liebeslied ist
„Meine Medizin“, wo es ihm um die Liebe als Droge geht. Musikalisch bedient
sich Brezel Göring darin bei Psychedelic-Pop genauso wie bei arabischen
Lauten-/Gitarrenmelodien.
Ganz großes textliches Tennis ist auch „Psychopathia Sexualis“: Der
Ich-Erzähler glaubt, sich in dem gleichnamigen Buch über „abweichendes“
Sexualverhalten aus dem Jahre 1886 wiederzuerkennen. „Eigentlich will ich
mit dem Lied nur sagen: Ich bin ein Perverser, ich steh dazu“, sagt Göring
und lacht.
## Bald kommen die anderen Songs
Bliebe die Frage, warum ein Erstwerk „Psychoanalyse Vol. 2“ heißt und was
mit Teil 1 passiert ist. Die Erklärung: Zunächst gab es viel mehr Songs,
die Göring veröffentlichen wollte, doch die waren persönlicher und
ungefilterter als die nun erschienenen Lieder. Sein Agent riet ihm von
einer Veröffentlichung ab.
Brezel Göring macht Hoffnung, dass „Psychoanalyse Vol. 1“ schon bald folgen
könnte, eventuell sogar mit den „verbotenen“ Songs. Inzwischen spielt er
auch in einer Band namens Nebel3000 mit den Italiener:innen Noisy Pig
und Lady Maru (ehemals Dada Swing). Während er mit Nebel3000 zuletzt
Konzerte gespielt hat, ist seine Solotour vorerst verschoben worden – mit
Ausnahme eines Konzerts in Berlin am heutigen Mittwoch. Auf das darf man
sich umso mehr freuen.
13 Jul 2022
## LINKS
[1] /Zur-Erinnerung-an-Francoise-Cactus/!5753156
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Pop
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