# taz.de -- Debütalbum von Wilhelmine: Neue deutsche Nahbarkeit | |
> Den Yogi-Tee um Rat fragen: Die queere Berliner Sängerin Wilhelmine hat | |
> mit „Wind“ ein sehr persönliches Debütalbum kreiert. Wie klingt es? | |
Bild: Möchte Verletzlichkeit wieder salonfähig machen: Popsängerin Wilhelmine | |
Liebe und Herzschmerz sind bekanntlich zentrale Themen in der Popmusik. | |
Auch Wilhelmine verschließt sich ihnen auf ihrem Debütalbum „Wind“ nicht. | |
Mit ihrer Single „Schwarzer Renault“ verdaut die Sängerin aus Berlin das | |
Ende einer Beziehung. Sie schildert darin anschaulich, was bei einer | |
Trennung während der Trauerphase passiert. Egal, wohin sie blickt: Dauernd | |
erinnert sie etwas an ihre Ex. Dazu spielen sehr dezente, elektronische | |
Klänge. | |
Zwei Lieder weiter ist Wilhelmine in „Ich gehör wieder mir“ schon wieder | |
bereit für einen Neuanfang. Zum pulsierenden Beat erfreut sie sich daran, | |
dass sie [1][endlich wieder küssen] kann, „ohne dass mein Gewissen immer | |
noch nach dir fragt“. So weit, so erwartbar. Um einiges interessanter wird | |
es in dem sanft groovenden „Bitte geh nicht“. | |
Dieses Stück entspringt Wilhelmines Befürchtung, dass ihre Partnerin sie | |
verlassen könnte. „In meinem Leben gab es viele Aufs und Abs und | |
Instabilität“, sagt die Musikerin im Zoom-Interview. „Verlustangst ist | |
zentral.“ Geboren wurde Wilhelmine 1990 in Berlin, ihre ersten Lebensjahre | |
verbrachte sie [2][in einem besetzten Haus in Kreuzberg]. | |
## Anti-Atomproteste und Haustiere | |
Mit sechs zog sie mit ihren Eltern und anderen Hausbewohner:innen ins | |
Wendland, erlebte als Kind die Proteste gegen das Atommüllendlager in | |
Gorleben hautnah. Ein bisschen Romantik gab es dennoch: In der | |
niedersächsischen Provinz konnte sie sich einen Wunsch erfüllen: Haustiere. | |
Zudem sang sie in der Mädchenband Direkt und spielte Fußball im gleichen | |
Verein wie die spätere Nationaltorhüterin Almuth Schult. | |
Nach dem Abitur sah sie sich allerdings weder als Fußballprofi noch als | |
Musikerin. Erst ging Wilhelmine für ein Jahr nach Spanien, anschließend | |
entschied sie sich für eine Ausbildung zur Kauffrau für audiovisuelle | |
Medien. Eine Weile studierte sie und kehrte zurück nach Berlin, um | |
Straßenmusik zu machen und in U-Bahnhöfen aufzutreten. | |
Bis 2019 ihre erste Single „Meine Liebe“ herauskam, auf der sie ihre | |
Homosexualität offen ansprach. Ihre EP „Komm wie du bist“ folgte 2020. In | |
ihren Liedern verpackt Wilhelmine Splitter der eigenen Biografie in | |
eingängige Melodien. Gefühlig ist das schon, aber nicht unbedingt so, wie | |
es im deutschsprachigen Mainstream-Pop gewünscht ist. Mit ihrem Debüt geht | |
Wilhelmine diesen Weg konsequent weiter. Gewiss verschmäht sie auf „Wind“ | |
die eingangs erwähnten Liebeslieder nicht. | |
## Positives Abschiedslied | |
Doch sie erweitert ihr Themenspektrum, befragt auch mal ihren Yogi-Tee um | |
Rat. Dass Wilhelmines Jugend nicht wohlbehütet vonstatten ging, hört man | |
deutlich aus ihrer Musik. Der melancholische Song „Sicher“, in ein | |
Streicherarrangement gebettet, lässt keinen Zweifel daran, wie sehr die | |
Vortragende der Suizid einer nahestehenden Person, offenbar eine | |
Vaterfigur, getroffen hat: „Ich habe versucht, ein positives Abschiedslied | |
zu schreiben“, erklärt Wilhelmine dazu lakonisch. | |
Das nachdenklich-sphärische „Mein Bestes“ hat Wilhelmine jener Person | |
gewidmet, die sie großgezogen hat – obwohl sie gar nicht ihre leibliche | |
Mutter ist. In „Alles beim Alten“ gesteht die Berlinerin: „Eigentlich war | |
ich nie cool mit Veränderungen.“ Inzwischen hat sie sich aber | |
weiterentwickelt: „Umbrüche finde ich schön. Ich glaube, dass man da | |
hineinwächst.“ | |
Die Songs sind Seismografen für Wilhelmines Befindlichkeit. „An die Freude“ | |
kommt dagegen als wuchtiges Mutmachlied daher, mit der Botschaft: „Du bist | |
nicht allein.“ Musikalisch sticht dieses Stück heraus. „Bei der Produktion | |
habe ich etwas Neues probiert“, erklärt Wilhelmine. „Das ist mein | |
[3][Avril-Lavigne-Moment].“ | |
Fragt man die Künstlerin, wofür sie mit ihrer Musik steht, antwortet sie | |
prompt: „Ich stehe für Nahbarkeit, für einen Safe Space, für eine | |
Community. Ich möchte Verletzlichkeit wieder salonfähig machen.“ Was ihr | |
nicht behagt: Dass es in Songtexten so oft Vorwürfe hagelt: „Ich versuche | |
die zu vermeiden. Aus meinen Formulierungen sollen Leute etwas mitnehmen.“ | |
So bleibt Wilhelmine eine Ausnahmeerscheinung im deutschsprachigen Pop. Man | |
schätzt sie für ihre Glaubwürdigkeit, ihre Emotionalität. Jedenfalls | |
meistens. | |
1 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dagmar Leischow | |
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