# taz.de -- Die These: Werfen Sie Ihr Handy in den Gully | |
> In der Mittagspause landet sein Smartphone im Gully. Unser Autor erlebt | |
> in den Tagen danach Solidarität, und er lernt etwas über Physik. | |
Bild: Sucht sein Smartphone: Autor Kersten Augustin | |
Stellen Sie sich vor, es ist Montagmorgen, der Wecker klingelt, und beim | |
Blick in den Badezimmerspiegel sehen Sie, dass die Ringe unter Ihren Augen | |
noch dunkler geworden sind. Es sind bestimmt 50 verschiedene Schattierungen | |
von Grau, die Sie da anschauen. Aber Ihr Schlafentzug hat nichts mit Sex zu | |
tun oder nur sehr indirekt, nämlich mit Kleinkindern. Später, im Aufzug ins | |
Büro, der zweite Blick in einen Spiegel, diesmal fallen Ihnen die grauen | |
Haare auf, die waren doch am Freitag noch nicht da, oder? | |
Auf dem Weg zum Schreibtisch vibriert das Telefon in der Hosentasche, es | |
erzählt ungefragt, wie viele Stunden Sie in der letzten Woche auf den | |
Bildschirm geschaut haben, 25 Stunden täglich, na toll. Wieder eine Woche, | |
in der Sie Ihr Handy mehr gestreichelt haben als die Haare Ihrer Liebsten. | |
Nach der Mittagspause dann das Meeting mit der Chefin, die will Ihnen doch | |
bestimmt Arbeit aufs Auge drücken, denken Sie. Aber egal, noch fünf Tage, | |
dann ist Urlaub. Und immerhin führen Sie das Gespräch mit der Chefin in der | |
Sonne, am Cafétisch an der Bordsteinkante. | |
Doch dann, als Sie das Meeting gerade beenden wollen, um noch ein paar | |
Stunden in einem dunklen Raum zu sitzen und in Ihren Computer zu hacken, | |
fällt Ihnen das Telefon aus der Tasche, es fällt Richtung Straße, | |
eigentlich elegant, wie es da fällt, nämlich ganz senkrecht, wie ein | |
Turmspringer. Ohne eine einzige Berührung rauscht es durch die Stäbe des | |
Gullydeckels, und mit einem satten Platschen, das verstärkt durch den Hall | |
des Kanalschachts zu Ihnen hinaufdringt, taucht das Handy in die dunkle | |
Brühe ein. | |
## Abenteuer im Büro | |
Immerhin, denken Sie als Erstes, das Meeting ist jetzt zu Ende. Was Sie | |
noch nicht wissen: Dass gerade das Beste passiert ist, was Ihnen in dieser | |
Woche, ach was, in diesem Jahr passieren konnte. | |
Platsch. | |
In den nächsten 24 Stunden werden Sie in Ihrem grauen Büroalltag Abenteuer | |
erleben, die Sie in Ihren wildesten Träumen nicht für möglich gehalten | |
hätten. [1][Tolle Kollegen], nachbarschaftliche Solidarität, die Polizei | |
als Freund und Helfer. Und Sie werden ein bisschen was über Physik und die | |
Kanalisation lernen. | |
Es beginnt damit, dass Sie den irre schweren Gullydeckel anheben, zur Seite | |
wuchten und in das schwarze Loch schauen. Der Gully ist schmal, ein | |
erwachsener Mensch passt nicht in die Öffnung, Stufen gibt es auch nicht. | |
In etwa eineinhalb Metern Tiefe beginnt die schwarze Brühe. | |
Und jetzt? | |
In kürzester Zeit hat sich um das schwarze Loch eine Menschentraube | |
versammelt wie um ein Lagerfeuer: Ihre Kollegen strömen herbei, | |
Passantinnen verlangsamen ihren Schritt und schauen neugierig in die Tiefe, | |
Touristen hoffen eine neue Berliner Subkultur entdeckt zu haben. | |
Ein Kollege aus der Kantine holt einen Eimer und einen Schrubber, eine | |
Kollegin, die irgendwas mit Videos im Internet macht, beginnt zu filmen. Es | |
scheint, als hätten alle nur darauf gewartet. | |
„Du musst …“ | |
„Nein, am besten …“ | |
„Ich hab noch ’ne Idee …“ | |
Da in einem Büro aber viele Menschen arbeiten, die recht haben, und wenige, | |
die rechte Hände haben, merken Sie auch, auf wen Sie sich verlassen können: | |
Ein Nachbar bringt eine große Harke. | |
Nun legen Sie sich auf den Boden, machen Ihren Arm ganz lang und beginnen | |
zu fischen. Etwa einen halben Meter tief durch dunkles Wasser, dann beginnt | |
Matsch. Sie drehen und wenden die Harke in dem Loch, aber einen Widerstand, | |
ein Handy spüren Sie nicht. Sie beginnen, den Matsch an die Oberfläche zu | |
holen: große Mengen stinkenden Laubs und Zigarettenschachteln. Aber kein | |
Handy. | |
Jetzt versuchen Sie es mit einem Kescher, ebenfalls vom Nachbarn | |
vorbeigebracht, aber der Griff ist zu kurz, deshalb binden Sie mit | |
Klebeband noch eine weitere Stange dran. Sie holen noch mehr Schlick und | |
Müll aus dem Gully. Ihr weißes T-Shirt ist jetzt grau. | |
Eine Polizeiwanne hält neben Ihnen auf der Straße. Drei junge Männer in | |
Westen steigen breitbeinig aus, um zu sehen, worum es geht. An ihren Westen | |
tragen sie Anstecknadeln vom Einsatz beim [2][G7-Gipfel] in Elmau. Sie | |
müssen an Ihre letzte Begegnung mit der Polizei auf so einem Gipfel denken. | |
„Was ist hier los?“, fragt der Polizist. | |
Während Sie noch überlegen, ob Abhauen oder Kooperieren die richtige | |
Strategie ist, erfahren die Polizisten von einer Kollegin, was los ist, und | |
wollen helfen: rufen erst die Wasserbetriebe an, die an die | |
Straßenreinigung verweisen, die der Polizist dann auch noch anruft, aber | |
dort antwortet nur eine Maschine, dass gerade irre viel los sei und man | |
später anrufen solle. Die Polizisten wünschen noch viel Glück und fahren | |
weiter. | |
Der Nachbar bringt jetzt eine Dreckwasserpumpe. Was hat der alles? Sie | |
lassen die Pumpe an einem Seil heruntergleiten und beginnen damit, das | |
dreckige Wasser hochzupumpen. Aber wohin mit dem Wasser? In den Gully geht | |
ja gerade nicht. Also in ein paar Eimer und wegschleppen, die Kollegen | |
helfen tragen. Aber entweder läuft Wasser von unten nach oder es ist | |
einfach zu viel Matsch, und irgendwann hört die Pumpe einfach auf zu | |
pumpen. | |
Was jetzt? | |
Den Arbeitstag haben Sie erfolgreich rumgekriegt, Sie müssen nach Hause. | |
Am nächsten Morgen wachen Sie auf. Sie greifen zum Handy, aber da ist | |
keins. Beim Blick in den Spiegel sind da noch die 50 grauen Schatten, aber | |
irgendwie sehen die schon heller aus als gestern. Sie wollen ein Selfie | |
machen, aber das geht ja nicht. Statt zehn Minuten auf dem Klo sitzend | |
durch das Elend der Welt zu wischen, machen Sie das Radio an und tanzen | |
durch die Küche, während PeterLicht „Begrabt mein iPhone an der Biegung des | |
Flusses“ singt. | |
Sie waren heute noch gar nicht auf Twitter, Sie lesen in der U-Bahn die | |
gedruckte FAZ. Sie überlegen, für immer ohne Smartphone zu leben. Wie das | |
allein klingt, denken Sie: Handy, Gully. Da gibt es doch eine Verbindung? | |
Zurück im Büro starten Sie den nächsten Versuch, das Handy zu retten. | |
Mittlerweile ist es nur noch sportlicher Ehrgeiz, der Sie antreibt. Und | |
Geiz: Selbst wenn das Gullyhandy nicht mehr funktionieren sollte, wäre es | |
noch über 100 Euro wert, wenn Sie es zum Recycling einschickten. 250 Euro | |
soll es kosten, wenn die Straßenreinigung es rausholt, weiß ein Kollege, | |
dem das Gleiche mal mit seinem Schlüsselbund passiert ist. | |
Sie fahren zum Baumarkt, fragen nach einem Seil und dem stärksten Magneten, | |
den sie haben. Die oberschlauen KollegInnen aus der Rechercheabteilung | |
Sebastian E. und Jean-Philipp B. haben Ihnen das empfohlen und Links zu | |
oberseriösen Quellen geschickt: „Galileo“ und ProSieben. | |
Während Sie mit dem Magneten über dem Gullyloch stehen, müssen Sie an das | |
Angeln am See und an den bevorstehenden Urlaub denken. Diesmal ist das | |
Angeln wenigstens vegan, und die Sonne scheint auch. Aber bis auf ein paar | |
alte Schrauben beißt nichts an. Ein Kollege empfiehlt noch, den | |
Supermagneten 3000 zu bestellen, aber irgendwann ist auch mal Schluss. | |
Nach zwei Tagen ist die Euphorie verflogen. Sie lernen von Google, dass Ihr | |
Handy sowieso nur eine halbe Stunde im Wasser überlebt. Sie denken an die | |
vielen Apps auf Ihrem Handy, die Ihr Leben leichter gemacht hatten: die | |
Corona-App, Google Maps, die Bank-App (wie kommen Sie jetzt an Ihr Konto?), | |
die Bahn-App (wie kommen Sie jetzt an Ihr [3][9-Euro-Ticket?]). | |
Einen goldenen Käfig haben Sie sich gebaut, und Sie fragen sich, ob es Ihr | |
Handy ist, das dort gefangen unter einem Gullydeckel liegt, oder Sie | |
selbst. Sie fühlen sich vom Leben verapplet, denken Sie, während Sie das | |
neue Handy in den Warenkorb legen und auf „Bestellen“ klicken. | |
19 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
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