# taz.de -- Sprache in der Schule: Gendergap im Klassenzimmer | |
> In der sechsten Klasse einer Berliner Schule steht Debattieren auf dem | |
> Lehrplan. Das Thema dieses Mal: Gendern. | |
Bild: Klassenraumklischee: pinke Mäppchen, blaue Rucksäcke | |
Schon im leeren Klassenzimmer lässt sich ausmachen, wo die Jungs und wo die | |
Mädchen sitzen. Auf den Tischen liegen Federmappen, auf dem Boden die | |
Ranzen. Pink, rosa und lila die einen. Dunkelblau und schwarz die anderen. | |
Hier prangen Meerjungfrauen und Herzchen – dort Rücksäcke in Tarnmuster. | |
Die Glocke läutet, langsam strömen die Schülerinnen und Schüler hinein. In | |
den nächsten 80 Minuten steht Debattieren auf dem Lehrplan. Das Thema: | |
Gendern. In etlichen Artikeln und Talkshows, in sozialen Netzwerken und | |
Eckkneipen – die Gesellschaft diskutiert seit Jahren leidenschaftlich über | |
das Sternchen. Es geht darum, ob und wie [1][Sprache die | |
Geschlechtervielfalt] darstellen kann. Doch wo es um Sprachgebrauch und | |
tradierte Denkmuster geht, scheint ein sachlicher Diskurs oft nicht | |
möglich. Unser Verhältnis zu Worten ist ein emotionales. Aber wie ist das | |
bei Kindern, deren Wortschatz noch keinen sentimentalen Ballast hat? | |
„Ich blicke in viele erschöpfte Gesichter. Vom warmen Wetter und vom | |
Sportunterricht“, sagt die Lehrerin, Anfang 40, die nicht mit Klarnamen | |
genannt werden möchte. Über einen engeren Kontakt zur Schule ist diese | |
Reportage möglich geworden. Die Aufgeladenheit, die das Thema in der | |
Gesellschaft hat, besorgt sie. Darum hat sie es gewählt: Die Debatte durch | |
die Augen von Kindern betrachten. Es ist Mai, die fünfte und sechste | |
Unterrichtsstunde an einer Grundschule in Berlin-Mitte. Eine sogenannte | |
„Brennpunktschule“. 64,2 Prozent der Menschen in der Gegend haben eine | |
Migrationsgeschichte. | |
Der Klassenraum der sechsten Klasse ist girlandenbehangen. An der Decke | |
hängt ein Seil mit bunten Blättern, auf denen Namen und Geburtstage der | |
Kinder stehen. Die sind zwischen 11 und 14 Jahre alt – je nachdem, ob sie | |
schon Klassen wiederholen mussten. Es sind 19 Schülerinnen und Schüler im | |
Raum. Das Wort „Gendern“ erscheint auf dem Whiteboard. | |
Die Lehrerin: „Wer hat das schon mal gehört?“ Etwa die Hälfte der Kinder | |
meldet sich. Hadice*: „Ist das etwas mit Geschlecht? Ein Mann, der eine | |
Frau sein will?“ Taner: „Wenn sich jemand im falschen Körper fühlt, dann | |
ist der divers.“ | |
## Was ist gerecht? | |
Immer wieder hält die Lehrerin die Kinder dazu an, sich zu melden, nicht in | |
die Klasse zu brüllen. Doch die sechs Buchstaben am Whiteboard sorgen für | |
Aufregung – ein Verlangen danach, diesem Begriff auf die Spur zu kommen. | |
Die ersten Wortmeldungen handeln von trans Menschen, von diversen Personen. | |
Begrifflichkeiten, die oftmals noch erklärende Zusätze brauchen. | |
Die Kinder tun das vorbehaltlos: Da sind Menschen, die fühlen sich unwohl | |
mit ihrem Geschlecht. Waren vielleicht mal ein Mann, aber jetzt nicht mehr. | |
Für die Kinder ist das Alltag: Sie wachsen mit Tiktok und Youtube auf. Sie | |
sehen und hören Menschen, die anders sind als sie. Ein kurzes Reel kann | |
genügen, um dem Begriff [2][„Gendern“ eine erste Kontur] zu geben. | |
Lehrerin: „Wer wird angesprochen, wenn ich sage: ‚Die Schüler schlagen | |
jetzt das Buch auf?‘“ Hadice: „Schüler bedeutet jeder.“ Lehrerin: „A… | |
es gerecht, wenn ich nur Schüler sage und nicht Schülerinnen?“ | |
Darauf hat niemand eine Antwort. Stattdessen wird nach Lösungen gesucht. | |
Man könnte doch andere Wörter nutzen: „Alle Kinder schlagen jetzt das Buch | |
auf.“ Oder „alle Menschen“ oder „die Klasse“. Es entsteht aufgeregtes | |
Gequassel, die Schüler:innen haben Freude daran, Sprache zu erkunden. | |
Oft heißt es, Gendern sei unästhetisch, mache Sprache kaputt. Die Kinder | |
hier suchen noch nach ihrer eigenen. Sie tasten und finden nicht immer, | |
sprechen zu Hause oft eine andere Sprache als in der Schule. Mehrere | |
Studien haben gezeigt, dass Gendern Einfluss auf Kinder und Erwachsene hat. | |
## Gendergap aus Videos gelernt | |
Beispielsweise kann das Gendern von Berufsbezeichnungen dazu führen, dass | |
Mädchen sich eher vorstellen können, später mal in einem „typischen | |
Männerberuf“ zu arbeiten. Gleichzeitig ergab eine Studie des Rheingold | |
Instituts aus diesem Jahr, dass mehr als die Hälfte der befragten 14- bis | |
35-Jährigen [3][die Genderdebatte eher ablehnen]. 44 Prozent halten sie | |
jedoch für notwendig. Vor allem junge Frauen sehen darin ein wichtiges | |
Signal. | |
Taner und Hadice beteiligen sich besonders rege am Unterricht. Sie melden | |
sich, warten, bis sie aufgerufen werden. Beide sind zwölf Jahre alt. Sie | |
trägt ein rosa T-Shirt, er einen schwarzen Kapuzenpullover, darauf „Skate“ | |
in roten Lettern. | |
Als es wieder zu laut im Klassenraum wird, ertönt die Klangschale. | |
Abmachung ist: Die Kinder müssen so still werden, dass der leise Gong im | |
ganzen Raum zu hören ist. Es funktioniert. | |
Dann bringt Taner etwas Neues ins Gespräch: „Man kann auch Schüler/innen | |
sagen.“ Der Sechstklässler macht eine Pause zwischen den Wortbestandteilen, | |
[4][einen sogenannten „Gendergap“]. Er habe das schon öfter in Videos | |
gehört, sagt er. Und in den Briefen vom Amt würde das so stehen. | |
Taner macht eine Handbewegung, um den Schrägstrich darzustellen, den er | |
noch nicht in einem Wort ausdrücken kann. Nicht alle Kinder kennen diese | |
Sprechweise. Nicht alle verstehen sie. Eine Diskussion entsteht: Wäre | |
„Schüle/rinnen“ nicht einfacher auszusprechen als „Schüler/innen“? | |
## Jetzt kommen die Klischees | |
Im zweiten Teil des Unterrichts sind die Klischees an der Reihe. Die Kinder | |
werden in vier Gruppen eingeteilt, Jungs und Mädchen getrennt. Sie bekommen | |
Plakate und Stifte. Die Jungs sollen aufschreiben, was Mädchen vermeintlich | |
nicht können und andersrum. „Keine Schimpfworte und keine Namen von | |
jemandem aus der Klasse nennen“, mahnt die Lehrerin. Schließlich werden | |
zwei Mädchen und zwei Jungs entsandt, um vorne an der Tafel die Ergebnisse | |
ihrer Gruppen vorzustellen. | |
Die restliche Klasse soll Argumente finden, um die Behauptungen zu | |
entkräften. „Nicht aufregen, keine Beleidigungen schreien, das | |
Argumentieren üben!“ | |
Die Jungen legen los: Es geht ums Autofahren, logisch denken und handeln. | |
Und um Döner. Mario: „Mädchen arbeiten nicht im Dönerladen.“ Ayla: „Nur | |
weil ihr das noch nicht gesehen habt, heißt es nicht, dass keine Frauen im | |
Dönerladen arbeiten können.“ | |
Mario: „Es gibt den Dönermann, aber nicht die Dönerfrau!“ Ayla nennt | |
Dönerläden in Berlin, in denen sie schon Frauen hat arbeiten sehen. Auch | |
die anderen Thesen werden mit erlebter Evidenz widerlegt. „Meine Tante kann | |
besser Auto fahren als mein Onkel“, sagt ein Junge leise zu seinem | |
Sitznachbarn. | |
Tradierte Klischees treffen auf den Alltag von Kindern, die all das | |
eigentlich gut kennen: Arbeitende Frauen, die logisch denken und handeln | |
können. | |
Und auch die Jungen scheinen ihre eigenen Vorurteile nicht ganz zu glauben. | |
Anders bei den Mädchen. Ceyda: „Jungs können nicht ihre Gefühle zeigen.“ | |
Ohrenbetäubendes Geschrei von den Jungs. Malik: „Das waren doch jetzt | |
Gefühle.“ Ceyda: „Aber zwischen Wut und Gefühlen gibt es einen Unterschie… | |
Das Einzige, was ihr zeigt, ist Wut.“ | |
## Jungs weinen auch | |
Es folgen Gegenbeispiele. Jungs würden um Mädchen weinen. Oder beim | |
Fußball, wenn sie sich verletzt haben. Doch die Mädchen geben nicht klein | |
bei. Jungs würden anders denken. Sie „boxen und schlagen“ da, wo Mädchen | |
höchstens „petzen“ würden. | |
Auf einen Punkt können sich schließlich die meisten einigen. Hadice: „Nur | |
Frauen können gebären.“ Schüler: „Was heißt gebären?“ Lehrerin: „K… | |
kriegen.“ Schüler: „Ja, das weiß ja jeder.“ Zumindest dann, wenn in der | |
Schwangerschaft nichts schieflaufe, fügt er noch an. | |
Und dennoch: „Wir können nicht schwanger werden, aber haben ja trotzdem | |
Kinder“, sagt Taner. | |
Gleich ist der Unterricht zu Ende. Die Kinder gehen zurück auf ihre Plätze, | |
die Diskussion ist beendet. Die Lehrerin möchte ihnen noch einen Gedanken | |
mit auf den Weg geben. | |
„Kann es sein, dass sich mit Wörtern bestimmte Vorstellungen hervorrufen | |
lassen?“ [5][Sie spricht von der Macht der Sprache]. Könnte es einen | |
Unterschied machen, ob etwa von Lehrern die Rede ist oder von Lehrerinnen? | |
Vielleicht sogar von Lehrer:innen? Vereinzeltes Nicken. Dann verlassen die | |
Kinder den Raum. Das Whiteboard erlischt, die rosa und blauen Federmappen | |
sind von den Tischen verschwunden. | |
## Eine gespaltene Gesellschaft? | |
Es heißt ständig, dass unsere Gesellschaft gespalten sei. So als hätte es | |
da irgendwann etwas Ganzes gegeben. Schon lange ist von Polarisierung, von | |
Gräben die Rede. Das Gespaltene war auch in den Kindern zu erkennen. | |
Die Klischees auf der einen Seite. Der neugierige und aufgeschlossene | |
Umgang mit Sprache und Identität auf der anderen. Die Gleichzeitigkeit des | |
vermeintlich Ungleichzeitigen scheint ohne Brüche und Widerspruch in ihnen | |
zu sein. Es ist das, was sie jeden Tag erleben. | |
Kurz bevor er den Klassenraum verlässt, spricht Taner nochmal die Lehrerin | |
an. Die Gruppenarbeit habe ihm nicht so richtig gefallen. Denn: „Eigentlich | |
können Jungs und Mädchen alles machen. Aber wir sollten ja nach den | |
Unterschieden suchen, also haben wir welche gefunden“, sagt er. | |
Hinweis: Auch die Namen der Schülerinnen und Schüler wurden verändert | |
12 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-um-gegenderte-Sprache/!5801233 | |
[2] /Die-DFG-gendert/!5784679 | |
[3] https://www.rheingold-marktforschung.de/stolperfalle-gendern/ | |
[4] /Gendern-als-Ausschlusskriterium/!5782080 | |
[5] /Gespraech-ueber-Gender-und-Sprache/!5758178 | |
## AUTOREN | |
Matthias Kreienbrink | |
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