| # taz.de -- Gender-Erwartungen an Kinder: Mehr als Herzensbrecher | |
| > Sobald Kinder sich freundlich oder fürsorglich verhalten, sagt jemand: | |
| > „Oh, die müssen verliebt sein!“ Diese Sicht auf Beziehungen ist viel zu | |
| > eng. | |
| Bild: Ein erstrebenswerter Titel? Vielleicht als Keks | |
| Vor einiger Zeit war ich mit dem Einjährigen in einer Spielgruppe. Als ich | |
| da so sitze, beobachte ich, wie ein Kind sich einer Mutter nähert, die | |
| nicht seine ist. Nennen wir ihn Jonas. Sie sitzt auf einem viel zu kleinen | |
| Stuhl an einem viel zu kleinen Tisch. Er stellt ihr Fragen und tritt von | |
| einem Bein aufs andere. Er will sie offenbar kennenlernen. Bis ein | |
| Erwachsener ruft: „Jonas ist ein Womanizer, da muss man aufpassen.“ Höhöh… | |
| Gleiche Spielgruppe, anderer Tag. Ein Zweijähriger, nennen wir ihn Amir, | |
| hilft einem Kind, das noch gehen lernt. Er reicht ihr die Hand und schirmt | |
| sie vor Ecken ab. Er ist vorsichtig und es macht ihm sichtlich Spaß. Einer | |
| der Männer sagt lachend: „Ja, Amir hat sich schon letztes Mal in sie | |
| verliebt.“ Höhöhö. | |
| Beide Male schnaufe ich, aber sage nichts. Ich bin zu müde. Dennoch | |
| überlege ich seither, was ich beim nächsten Mal sagen könnte. Meine beiden | |
| Kinder hören auch oft solche Sprüche und ich hasse es. Leute sagen, dass | |
| sie mal „Herzensbrecher“ sein werden, als wäre das ein erstrebenswerter | |
| Titel. Wenn sie mit Mädchen spielen, fragen Erwachsene, ob da „jemand schon | |
| eine Freundin hat“, zwinker-zwinker. Es würden ihnen sicher „die | |
| Mädchenherzen nur so zufliegen“. Manchmal sage ich dann: „Oder die | |
| Jungsherzen.“ Oder, sofern die Situation es wert scheint: dass ich nicht | |
| möchte, dass meine Kinder auf diese Art sexualisiert werden. | |
| Was bringt so viele Leute dazu, beim Anblick von Kindern an | |
| Liebesbeziehungen oder an deren zukünftige Sexpartner*innen zu denken? | |
| Und damit hier keine Missverständnisse entstehen, ich bin sehr für | |
| Aufklärung. Meine Kinder können Geschlechtsteile benennen, und sie wissen, | |
| [1][dass es mehr als nur Jungen und Mädchen gibt]. Sie wissen auch, dass | |
| man das nicht an Äußerem erkennen kann. Sie lernen, wie Babys entstehen, | |
| und wissen, dass jede Liebe gut ist, solange sie auf Einverständnis und | |
| Augenhöhe beruht. Denn all das hat nichts mit Sexualisierung zu tun. Das | |
| ist [2][Bildung]. | |
| ## Freundlichkeit ist anders als „Liebe“ | |
| Es ist aber sehr wohl Sexualisierung, wenn Kindern beigebracht wird, dass | |
| sie, sobald sie sich fürsorglich verhalten, ja nur verliebt sein können. | |
| Wenn man kleine Pärchen aus ihnen macht. Wenn einem Jungen gesagt wird, | |
| jede noch so banale Beziehung zu einem Mädchen – und sogar zu einer Frau, | |
| die seine Mutter sein könnte – müsse sofort Liebe sein. Ganz abgesehen | |
| davon, dass diese Zuschreibung wohl auch für die betroffene Erwachsene | |
| reichlich absurd sein dürfte. | |
| Das Einzige, das man wohl erreichen kann, wenn man vor allem vor Jungs | |
| ständig Freundlichkeit mit Liebe gleichsetzt, ist, dass sie aufhören, allzu | |
| freundlich zu sein, sofern sie nicht verliebt sind. Dass sie | |
| Hilfsbereitschaft und Fürsorglichkeit nicht als erstrebenswerte | |
| Charaktereigenschaften sehen. Dass Interesse an Frauen nur mit „Interesse“ | |
| stattfindet. Und das ist ja durchaus etwas, das einem irgendwie bekannt | |
| vorkommt. | |
| 8 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Saskia Hödl | |
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