# taz.de -- Unsichere Zeiten für Queers im Libanon: Die Sündenböcke der Regi… | |
> Libanons Innenminister verbietet die Veranstaltungen der LGBTIQ-Pride, | |
> Aktivist*innen bekommen Morddrohungen. Sie sehen es als | |
> Ablenkungsmanöver. | |
Bild: Da stand die Installation „Liebe blüht immer“ in Beirut noch | |
BEIRUT taz | Die staatliche Elektrizitätsbehörde liefert [1][keinen Strom]; | |
Benzin, Medizin, sogar Lebensmittel sind für die meisten unbezahlbar; seit | |
einer Woche sind auch noch Wasserrohre kaputt, weshalb Teile Beiruts kein | |
Wasser mehr bekommen. Die Menschen im Libanon durchleben fast jede | |
vorstellbare Tortur im alltäglichen Leben. | |
Trotzdem hat der geschäftsführende Innenminister Bassam Mawlawi nichts | |
Besseres zu tun, als queere Veranstaltungen zu verbieten. Am Freitag | |
schrieb er einen Brief an die Staatssicherheit und bat dessen Angehörige, | |
alle Zusammenkünfte zu verhindern, welche „Homosexualität fördern“ würd… | |
Er erklärte, dass man sich „in diesem Fall nicht auf die Meinungsfreiheit | |
berufen könne, da dies ein Verstoß gegen die Gewohnheiten und Traditionen | |
unserer Gesellschaft ist und den Grundsätzen der monotheistischen | |
Religionen widerspricht.“ | |
Im Libanon sind gleichgeschlechtliche Beziehungen nach Artikel 534 des | |
Strafgesetzbuchs strafbar. Doch die libanesische Verfassung garantiert den | |
Schutz der Menschenrechte und die Gleichheit der Bürger*innen. | |
## Die Plakataktion „Liebe blüht immer“ wurde zerstört | |
Beamte der Staatssicherheit standen nach der Aufforderung des Ministers vor | |
der Tür des sogenannten „[2][Haven for Artists]“, eine kulturelle, | |
inklusive, feministische Organisation, die an der Schnittstelle von Kunst | |
und Aktivismus arbeitet. Sie verlangten, eine geplante Veranstaltung | |
abzusagen. | |
Die Entscheidung spielte konservativen Religiösen in die Karten. Der | |
sunnitische Mufti Sheikh Abdel Latif Derian sagte am Freitag, dass die | |
höchste sunnitische Autorität im Libanon, das Dar Al-Fatwa „die | |
Legalisierung von Homosexualität oder Zivilehe nicht zulassen würde“. | |
Eine christliche Gruppe, die sich „Soldaten Gottes“ nennt, postete am Abend | |
ein Video, in dem ihre Mitglieder eine Plakatwand zerrissen, auf der | |
blühende Blumen die Regenbogenfahne formten. Die Aktion „Liebe blüht immer�… | |
war Teil einer Kampagne von Beirut Pride. | |
Hadi Damien, Gründer und Hauptorganisator der Beirut Pride, erzählte der | |
taz: „Ein wütender Mob hat die Werbetafel mit Stöcken und Besen zerstört, | |
rief Drohungen und verwies auf das Alte Testament, dass das geblümte | |
Regenbogenbild satanisches Werk sei. Sie haben auch ein Mitglied unseres | |
Teams angegriffen, ihr Handy genommen und alle Daten darauf gelöscht.“ | |
## Die Finanzkrise macht das Leben von Queers noch schwieriger | |
Für Queers im Libanon ist es durch die Finanz- und Wirtschaftskrise | |
schwerer geworden. Da die Gehälter nicht den Kosten entsprechen, müssen | |
viele zu ihren Familien zurückkehren, auch wenn sie kein gutes Verhältnis | |
zu ihnen haben. | |
Damien sagt, dass viele queere Orte schließen mussten, weil sie mit den | |
steigenden Ausgaben in einer zusammengebrochenen Wirtschaft nicht Schritt | |
halten konnten. Er sagt, das [3][„Blooming Billboard“] sei eine friedliche | |
Installation. „Es ist eine Botschaft der Hoffnung inmitten der Krise, die | |
das Land daran erinnert, dass queere Menschen sich immer noch auf bessere | |
Tage freuen, und LGBTIQ+ sagt, dass sie gesehen und anerkannt werden.“ | |
Als Reaktion auf die Aggressionen war am Sonntag ein Protest geplant. Doch | |
der musste abgesagt werden, „wegen der großen Zahl öffentlicher Aufrufe zu | |
Tötungen und konkreter Informationen, dass Gruppen tatsächlich befugt | |
waren, Demonstrierende körperlich anzugreifen und sogar zu töten.“ | |
Statt eines bunten Protests standen in gedeckten Farben bekleidete Männer | |
mit einem Mufti – einem islamischen Rechtsgelehrten – zusammen vor dem | |
Informationsministerium. Einer von ihnen trug einen Schlagstock bei sich. | |
Ein anderer sagte: „Es passt nicht zu unseren Traditionen“. Was er mit „e… | |
meinte, wollte der Mann nicht weiter ausführen. | |
## „Die Behörden müssen von drängenden Themen ablenken“ | |
„Die libanesischen Behörden müssen Reformen durchführen, wozu sie noch | |
nicht bereit sind. Sie müssen von drängenden Themen ablenken – und dafür | |
sind LGBTIQ+-Themen gut genug: Sie betreffen Religion, Tradition, Glauben, | |
und Sitten – und das erregt die Gemüter“, erklärt Damien. | |
„Darüber hinaus brachten die [4][Wahlen im Mai 2022] dasselbe politische | |
Establishment zurück, das für den Zusammenbruch des Landes und für die | |
Explosion vom 4. August 2020 verantwortlich ist.“ Das Establishment könne | |
Großkriminelle und die Verantwortlichen für den Zusammenbruch und die | |
Explosion nicht verhaften und strafrechtlich verfolgen, daher betriebe es | |
„performative Politik“. | |
[5][Helem („Traum“), eine Nichtregierungsorganisation], die für die Rechte | |
der LGBTIQ-Gemeinschaft einsteht, spricht in einer Erklärung ebenfalls von | |
der „Sündenbock-Taktik“. „Regime und Institutionen, die es versäumt hab… | |
Gerechtigkeit und Sicherheit für ihr Volk zu schaffen, greifen oft | |
marginalisierte Gruppen an, um von ihrem Versagen und ihrer Korruption | |
abzulenken.“ | |
Die Organisation kündigte an, sich das nicht mehr gefallen zu lassen: „Wir | |
werden euch nicht weiter erlauben, unsere Sicherheit zu opfern, damit ihr | |
an der Macht bleibt.“ | |
## Die Angst vor weiteren Angriffen steigt | |
Mit den neuen Entwicklungen mehrt sich die Angst vor Angriffen auf | |
inklusive Räume wie Bars oder Cafés. Besonders Aktivist*innen aus der | |
queeren Gemeinschaft hatten sich politisch engagiert, vernetzt und 2019 bei | |
den Massenprotesten für einen gerechteren Staat eingesetzt. | |
Einschüchtern lassen will man sich dennoch nicht. Damien sagt: | |
„LGBTIQ+-Gruppen und Einzelpersonen haben beschlossen, den geplanten | |
Protest zu verschieben, um eine viel größere Anzahl von Teilnehmenden zu | |
sammeln. Das ist wichtig, um zusätzlichen Druck auszuüben und die | |
grundlegende Sicherheit zu gewährleisten. Es ist jetzt unvermeidlich, dass | |
wir auf die Straße zurückkehren.“ | |
27 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Energiekooperationen-in-Nahost/!5862106 | |
[2] https://havenforartists.org | |
[3] https://www.beirutpride.org/blooming-billboard | |
[4] /Nach-den-Wahlen-im-Libanon/!5852592 | |
[5] https://twitter.com/HelemLebanon | |
## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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