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# taz.de -- Brennpunktzulage für Erzieher*innen: Fehler der Vergangenheit
> Fällt eine Schule aus dem Brennpunktstatus, verlieren Pädagog*innen
> ihre Zulage. Für Erzieher*innen ist das finanziell oft dramatisch.
Bild: Sind diesem Schüler etwa die Erzieher*innen abhanden gekommen?
Berlin taz Seit 36 Jahren arbeitet Monika Koch, die eigentlich anders
heißt, als Erzieherin, 17 Jahre davon an der Grundschule am Teltowkanal in
Neukölln. Koch mag die Arbeit dort und fühlt sich ihrer Arbeitsstätte auch
emotional verbunden – zum Teil betreut sie inzwischen die Kinder ehemaliger
Schüler*innen. Dennoch, sagt die Erzieherin, habe sie zum 1. August einen
Umsetzungsantrag an eine andere Schule gestellt – explizit an eine
Brennpunktschule. Warum hat sie das gemacht?
Weil die Schule am Teltowkanal zum neuen Schuljahr offiziell ihren Status
als Brennpunktschule verliert, werden Koch und ihre Kolleg*innen
tariflich herabgestuft – und verlieren, durch eine Regelung im Tarifrecht,
im ungünstigsten Fall viele Erfahrungsstufen, was sich zusätzlich negativ
auf ihr Gehalt auswirkt. Der Unterschied auf Kochs Gehaltszettel: rund 500
Euro brutto, hat die Erzieherin überschlagen. Auch ihre Rentenansprüche
mindere die Rückstufung.
Koch ist kein Einzelfall: Allein in Neukölln verlieren laut der
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) drei Schulen zum neuen
Schuljahr den Brennpunktstatus. Dieser ist an die Zahl der Kinder
gekoppelt, deren Familien Hilfe vom Jobcenter bekommen, nimmt aber auch den
Sozialraum der Schule insgesamt in den Blick. Wer an einer Brennpunktschule
arbeitet, bekommt seit 2018 als Lehrer*in mit Vollzeitbeschäftigung eine
Zulage von 300 Euro brutto monatlich. Im laufenden Jahr betrifft das laut
Bildungsverwaltung 2.750 Pädagog*innen an 59 Schulen.
Erzieher*innen an diesen Schulen bekamen keine Zulage, sondern wurden
tariflich höher gestuft – das hat mit Kopplungen an das Beamtenrecht zu
tun, das bei Lehrkräften greift, bei Erzieher*innen nicht. Verliert die
Schule den Brennpunktstatus, verlieren die Lehrer*innen ihre Zulage. Die
Erzieher*innen wiederum verlieren gleich eine ganze Tarifstufe – und
zwar mit allen Erfahrungsstufen, die sie in der niedrigeren und der höheren
Tarifgruppe in ihrem Berufsleben gesammelt hatten. Koch sagt, sie werde
dadurch mit lediglich 11 Berufsjahren eingestuft.
Für Udo Mertens, Tarifexperte bei der GEW, hat die Bildungsverwaltung diese
Ungerechtigkeit 2018 wissentlich in Kauf genommen: „Das war eine politische
Entscheidung, und das Chaos war vorhersehbar.“ Die GEW habe den damaligen
Staatssekretär Mark Rackles eindringlich davor gewarnt, die
Erzieher*innen – gekoppelt an den Brennpunktstatus der Schule – höher
einzugruppieren. Denn wer wieder zurückgestuft werde, müsse „bei den
Erfahrungsjahren in dieser niedrigeren Stufe wieder bei null anfangen“.
Dazu gebe es seit Langem auch eine höchstrichterliche Rechtsprechung durch
das Bundesarbeitsgericht, sagt Mertens. „Das Gericht argumentiert, dass man
in dieser niedrigeren Erfahrungsstufe ja keine Erfahrungsjahre gesammelt
habe.“ Gehaltsunterschiede von bis zu 5.000 Euro pro Jahr hält Mertens für
realistisch. Der Bildungsverwaltung, damals noch unter Senatorin Sandra
Scheeres (SPD), sei das bekannt gewesen, sagt er. „Die Rechtsfolgen, die
eintreten, wenn es doch zu einer Änderung der Einstufung einer Schule
kommt, müssen noch geprüft werden“, zitiert die GEW in einer
Pressemitteilung aus einem Schreiben von Staatssekretär Rackles an die
Gewerkschaft.
„Zum Dank, dass eine Schule es schafft, den Brennpunktstatus auch durch den
hohen Einsatz der Erzieher*innen zu überwinden, drohen den
Kolleg*innen nun jährlich finanzielle Verluste“, hatte Anne Albers,
Leiterin des Vorstandsbereichs Beamten-, Angestellten- und Tarifpolitik der
GEW Berlin, bereits anlässlich von Elternprotesten an den drei betroffenen
Neuköllner Grundschulen Ende Juni gesagt.
Die Eltern fürchten um die Qualität der Betreuungsarbeit an ihren Schulen.
„Wir sind zutiefst beunruhigt“, sagt Elena Gavrisch, Elternvertreterin des
Aktionsteams Karlsgarten-Grundschule. Gavrisch weiß von fünf
Erzieher*innen an ihrer Schule, deren Umsetzungsanträge an eine
Brennpunktschule zum August bereits bewilligt worden seien. Man sei aber
„auf einen gut geregelten Betreuungsbetrieb an unseren Schulen angewiesen“,
schreiben die Eltern in einer gemeinsamen Stellungnahme in Solidarität mit
den Erzieher*innen.
„Die Personallage ist schon unter normalen Umständen prekär, aus unserer
Sicht gibt es wenig Luft für pädagogische Arbeit“, sagt Gavrisch. Eine
Rückmeldung auf ihren Protest vor der Bildungsverwaltung Ende Juni hätten
sie bisher nicht bekommen. Derzeit sammeln die Eltern Unterschriften
[1][mittels einer Onlinepetition], sie wollen das Thema nicht aufgeben und
nach den Sommerferien weiter Druck machen.
Die Gewerkschaft fordert die Bildungsverwaltung, an deren Spitze das
Personal inzwischen gewechselt hat, dazu auf, gemeinsam nach Lösungen zu
suchen. Die gebe es durchaus, sagt Tarifexperte Mertens – es seien die
gleichen, die man der Bildungsverwaltung auch bereits 2018 angetragen habe.
„Das Land hat durchaus die Möglichkeit, übertarifliche Zulagen zu zahlen.“
Das werde zum Beispiel bei Ärzt*innen, Ingenieur*innen und IT-Kräften
so gemacht und lasse sich auch tarifrechtlich begründen, sagt Mertens.
Tatsächlich bietet Paragraf 16 des Tarifvertrags der Länder (TV-L) die
Möglichkeit, etwa mit „Personalbedarf“ und „Bindung von qualifizierten
Fachkräften“ zu argumentieren. Auch den Kita-Erzieher*innen zahlt Berlin
seit August 2021 übrigens eine bis Ende 2022 befristete Brennpunktzulage –
und zwar ausdrücklich als Zulage oder „Prämie“.
Den Fehler, den man bei den Horterzieher*innen gemacht hat, will man
also immerhin offenbar kein zweites Mal machen. Für die betroffenen
Erzieher*innen an den Neuköllner Schulen – und potenziell weiteren
Schulen, die aus dem Brennpunktprogramm fallen – ist das indes ein
schwacher Trost. Wobei Mertens allen Betroffenen erst mal rät, nichts zu
unternehmen – also weder einen Umsetzungsantrag zu stellen noch eine
Änderung im Arbeitsvertrag zu unterschreiben.
Tatsächlich weiß auch die Bildungsverwaltung, dass sie es sich nicht
leisten kann, angesichts der Fachkräftekrise funktionierende Schulhorte
auseinanderzureißen. Ein Sprecher von Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse
(SPD) sagte auf taz-Anfrage am Montag, man sei „hierzu mit der
Senatsverwaltung für Finanzen im Gespräch“. Immerhin, so der Sprecher, habe
man „einen Puffer einzogen“: Erst wenn eine Schule drei Jahre
hintereinander den Brennpunktstatus nicht erreiche, falle die Zulage weg.
Wie viele das perspektivisch sein könnten, sei nicht klar. Bisher seien der
Verwaltung nur die drei Nord-Neuköllner Schulen bekannt: Dort scheine sich
das „durch die Gentrifizierung besonders auszuwirken“.
4 Jul 2022
## LINKS
[1] https://wechange.de/project/gev-karlsgarten-grundschule/file/petition-der-g…
## AUTOREN
Anna Klöpper
## TAGS
Brennpunktschulen
Erzieherinnen
Gewerkschaft GEW
Sandra Scheeres
Astrid-Sabine Busse
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Kindererziehung
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Lehrermangel
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