| # taz.de -- Die Ukraine und die EU-Beitrittsfrage: „Es gibt keinen Weg zurüc… | |
| > Was halten Ukrainer*innen von einem EU-Kandidatenstatus ihres Landes? | |
| > Sechs Stimmen aus Kiew, Charkiw und Luzk. | |
| Bild: Steht der Kompass auf EU-Beitritt der Ukraine? | |
| ## Die Rentnerin | |
| Lidija Morentschuk, 72, aus Luzk: | |
| Wenn in der Ukraine wieder Frieden sein wird, müssen wir so viele Probleme | |
| lösen, dass wir gar nicht wissen werden, woran wir uns festhalten sollen. | |
| Wenn wir dann in der EU oder zumindest Kandidat für eine Mitgliedschaft | |
| sind, werden wir nicht alleine sein. Jetzt sind die USA und Großbritannien | |
| unsere engsten militärischen Verbündeten. Doch für die EU wird es leichter | |
| sein, beim Wiederaufbau der Ukraine zu helfen, wir haben gemeinsame | |
| Grenzen. | |
| Bitte bedenken Sie, dass ich in der Sowjetunion geboren bin und dort den | |
| größten Teil meines Lebens verbracht habe. Luzk liegt nur 150 Kilometer von | |
| der polnischen Grenze entfernt, doch ich war nie in Europa. Aber wie | |
| könnten wir Ukrainer jetzt nicht die Chance ergreifen, um in die EU zu | |
| kommen? Seit 2014 haben wir einen hohen Preis bezahlt – Zehntausende Leben. | |
| Wir verstehen, dass Wladimir Putin die Ukraine nicht loslassen und die | |
| Sowjetunion wieder herstellen will. Unsere Antwort darauf ist eindeutig: | |
| Europa und die Nato. Der Beitritt der Ukraine ist eine Art Waffe für unsere | |
| Armee. Es gibt keinen Weg zurück. Protokoll: Juri Konkewitsch | |
| ## Der Handyverkäufer | |
| Nikita Tscherebko, 24, aus Charkiw: | |
| Ich denke, als Kandidaten werden sie uns nehmen, aber dann ist Schluss und | |
| wir werden nicht EU-Mitglied. Weil Russland ein starker Aggressor ist, vor | |
| dem haben sie Angst. Russland ist wie ein Affe mit einer Granate, da geht | |
| man besser nicht zu nah ran. Sollte man uns in die EU holen, so denke ich, | |
| wird Russland noch aggressivere Aktionen beginnen. Europa versteht das, | |
| minimiert das Risiko und wird die endgültige Entscheidung hinauszögern. | |
| Natürlich hängt alles von den weiteren Entwicklungen ab, aber ich denke, | |
| dass sich das noch lange hinziehen wird. Vielleicht nimmt man uns in die EU | |
| auf, wenn Putin als Präsident abgelöst wird, wenn das dann überhaupt noch | |
| zur Debatte steht. Aber wenn der noch zehn Jahre an der Macht bleibt, kann | |
| sich hier sehr viel ändern. Zehn Jahre lang können wir Russland nicht | |
| aufhalten. | |
| Ich bin Optimist, natürlich, aber man muss der Realität ins Auge sehen. | |
| Vielleicht fürchtet sich nicht ganz Europa vor Putin, aber der größte Teil. | |
| Und aus diesem Grund wird die EU die Aufnahme der Ukraine hinauszögern. | |
| Protokoll: Juri Larin | |
| ## Die Physikerin | |
| Nina, 45, wissenschaftliche Mitarbeiterin aus Kiew: | |
| Ich möchte unbedingt, dass wir den Beitrittsstatus bekommen, weil die | |
| Ukrainer ihn verdient haben. Wir haben mit unserem verzweifelten Kampf | |
| bewiesen, dass wir Europäer sind. Die Europäische Union sollte unser Opfer | |
| anerkennen, das wäre ein Symbol und der Beweis, dass sie uns unterstützt. | |
| Wenn wir diesen Status nicht bekommen, ist das für die Russen eine Carte | |
| Blanche, quasi das Signal dafür, dass sie mit der Ukraine machen können, | |
| was sie wollen, während Europa zusieht und verurteilt, ohne jedoch | |
| irgendwelche konkreten Maßnahmen zu ergreifen. | |
| Eine wichtige Überlegung ist auch, wie sich eine negative Entscheidung der | |
| Europäischen Union auf die ukrainische Moral auswirken könnte: Entweder | |
| wird sie sinken und die Niederlage ist unausweichlich, oder die Ukrainer | |
| werden dann noch verzweifelter kämpfen, weil sie wissen, dass sie sich nur | |
| auf ihre eigene Kraft verlassen können. Protokoll: Anastasia Magasowa | |
| ## Die Finanzexpertin | |
| Swetlana Wasiljuk, 47, aus Luzk: | |
| Der Kandidatenstatus ist für die Ukraine nicht so bedeutsam wegen der | |
| Investitionen in die Infrastruktur oder die Angleichung der Bildung. Das | |
| Wichtigste ist etwas anderes: Die Vorbereitungsphase umfasst Reformen, die | |
| die Ukraine unbedingt in Angriff nehmen muss. Das lässt sich mit der | |
| Einführung der Visafreiheit im Jahr 2016 vergleichen. Schon da musste | |
| unsere Regierung eine Reihe von Bedingungen erfüllen. | |
| Für die EU sind noch mehr solcher Reformen erforderlich, und der | |
| Kandidatenstatus wird nach dem Sieg über Russland Garant für Veränderungen | |
| sein. Es gibt kein Entrinnen mehr, jetzt müssen wir wirklich Reformen | |
| angehen. Wenn große Investoren kommen sollen, muss es ordentliche | |
| Gerichtsverfahren geben, die wirtschaftliche Freiheit muss gewährleistet | |
| sein und auch die Menschenrechte. | |
| Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer in der Ukraine etwas gegen die EU | |
| haben könnte. Außer vielleicht Politiker und Geschäftsleute, für die es im | |
| alten System bequemer ist, Geld zu verdienen. Protokoll: Juri Konkewitsch | |
| ## Der Fahrer | |
| Andrij, 25, aus Kiew: | |
| Als ich 17 war, gab es den Euromaidan und dann den Krieg. Damals verstand | |
| ich nicht wirklich, was EU und hoher Lebensstandard bedeuten. Aber jetzt | |
| ist meine Freundin vor dem Krieg in ein EU-Land geflohen. Von ihr erfahre | |
| ich, wie die Europäer leben. Ich verstehe, dass das Leben in der Ukraine | |
| auch so sein sollte. Wir sind nicht anders, wir verdienen es auch, und wir | |
| versuchen, es allen anderen jeden Tag an der Front zu beweisen. Russland | |
| hat uns schon acht Jahre gestohlen. Die hätten wir, statt Krieg zu führen, | |
| besser in unsere eigene Entwicklung investieren können. Protokoll: | |
| Anastasia Magasowa | |
| ## Der Erzbischof | |
| Igor Isitschenko, 66, Erzbischof der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen | |
| Kirche aus Charkiw: | |
| Ganz offensichtlich ist es nicht die Ukraine, die gerade eine Prüfung | |
| ablegt, sondern die Europäische Union. Sowohl hinsichtlich ihrer Berufung | |
| als auch in Bezug auf ihre Werte. Für Europa ist es notwendig anzuerkennen, | |
| dass es hier nicht um einen russisch-ukrainischen Krieg geht, sondern um | |
| den Dritten Weltkrieg, den der russische Imperialismus entfesselt hat. | |
| Russland will nicht nur die Vernichtung der ukrainischen Nation, sondern | |
| auch die Ausrottung dessen, was den europäischen Werten entspricht. | |
| Versteht sich die EU als Kraft, die in der Lage ist, sich selbst zu | |
| verteidigen und der Ausbreitung der östlichen Despotien, dieser Horde, | |
| Widerstand zu leisten, die, wie sich herausstellte, nicht mit dem Untergang | |
| mittelalterlicher Reiche verschwunden ist, sondern versucht, diese | |
| wiederzubeleben? Wir sind bereit, zusammen mit Europa dies aufzuhalten. Ob | |
| auch Europa dazu bereit ist? Eine Antwort darauf steht noch aus. Protokoll: | |
| Juri Larin | |
| Alle Beiträge aus dem Russischen übersetzt von Gaby Coldewey und Barbara | |
| Oertel. | |
| 18 Jun 2022 | |
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