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# taz.de -- Zukunft finden für die Provinz: Nie mehr ruhiges Hinterland
> Loitz bekam den Zuschlag als Zukunftsstadt 2030+. Aber was ist von den
> Hoffnungen gegen den Strukturverfall im pommerschen Hinterland geblieben?
Bild: Loitz an der Peene
Im Restaurant „Korl Loitz“ ist Hochbetrieb. Die Camper vom „Amazonas-Camp…
nebenan decken sich mit Loitzer Torf-Bier und Cola ein, um die kalten
Getränke auf der Terrasse des Restaurants oder auf den Stufen zum
Hafenbecken zu genießen. Träge fließt die Peene vorbei, auf der anderen
Seite steht meterhohes Schilfrohr. Das Restaurant im stillgelegten
Bahnhofsgebäude liegt direkt gegenüber dem Hafen mit seinem leerstehenden
riesigen Backsteinspeicher.
Es ist die einzige Einkehrmöglichkeiten neben dem Bistro mit Döner und
Pizza in Loitz (gesprochen „Lötz“), einem 4.300 Einwohner zählenden
Städtchen in Mecklenburg-Vorpommern. Die Alterskurve zeigt den höchsten
Ausschlag bei der Gruppe der 45- bis 59-Jährigen (1.067) und fast noch mal
so viele zwischen 60 und 74. Jetzt im Sommer kommen Wassertouristen, Angler
und Ausflügler dazu. Doch bald soll hier alles anders werden: Loitz zählt
zu den Gewinnern des Bundeswettbewerbs [1][„Zukunftsstadt 2030+“].
„Amazonas des Nordens“ wird die Peene bisweilen genannt. Sie ist Lebensader
eines der größten zusammenhängenden Niedermoorgebiete Mittel- und
Westeuropas mit einer Fläche von etwa 20.000 Hektar: ein CO2-Speicher. Die
Peene mäandert durch Heide, Äcker und Wald – ein fast unberührter Fluss.
Bei Loitz haben sich ehemalige Torfabbauflächen mit Wasser gefüllt und sind
über Zugänge mit der Peene verbunden.
Das schafft traumhafte Bedingungen für die Tierwelt: Fast 40 Fischarten
leben hier. Dazu kommen mehr als 150 Vogelarten, Amphibien, unzählige
Insekten, Fischotter und Biber. Typische, selten gewordene Pflanzen wie
Ostsee-Knabenkraut, Mehl-Primel oder verschiedene Sumpfblumen und zwölf
Orchideen-Arten breiten sich dort aus. Sie gedeihen prächtig an den
weitgehend naturbelassenen Ufern der Peene.
Seit 2011 steht diese Landschaft unter Schutz: als [2][Naturpark
Flusslandschaft Peenetal]. Nachhaltiger – oder auch „sanfter“ – Tourism…
soll eine wirtschaftliche Alternative für die Bewohner des dünn besiedelten
Landstrichs bieten.
Loitz ist trotz Peene-Idyll und der unmittelbaren Nähe zu Greifswald
verschlafen. Hier verfallen leerstehende Wohnhäuser, wie auch die ehemalige
Kartoffelstärkefabrik, die früher Arbeitsplatz für viele war. Neben der
neuen Sparkasse gibt es einige Friseurläden, einen Blumenladen, Elektroshop
und die Großversorger Aldi und Edeka. Seit Neustem organisierte Anette
Riesinger, zugezogene Loitzerin, einen Wochenmarkt. Jeden Mittwoch können
die Loitzer hier Brot aus Hohenbrünzow und Fleisch von einem Biometzger bei
Behrenhoff kaufen. Ansonsten tote Hose.
Oder eben doch nicht ganz: Die Stadt ist in Sachen Kultur in Vorpommern
bekannt geworden. Regelmäßig gibt es Aktionen, zahlreiche Kunstschaffende
haben sich in und um Loitz niedergelassen. So gilt etwa der „Kultur-Konsum“
als feste Adresse für Ausstellungen, Veranstaltungen und Zusammenkünfte.
Auch der [3][„Ballsaal Tucholski“] gleich um die Ecke ist ein kultureller
Treffpunkt, unter anderem als Spielstätte der „Festspiele
Mecklenburg-Vorpommern“.
Der Verein „Künstlergut Loitz“ mit seinem Ausstellungsdomizil „Peenetran…
in einer Baracke des ehemaligen Reitertouristikheims aus den 1960er Jahren
bietet Kunst und 21 Gästezimmer. Hinzu kommt die jährliche Beteiligung an
der landesweiten Aktion „Kunst:Offen“.
Nachhaltig Farbe und Leben im Alltag bringen der Kleinstadt die
Wandmalereien des Künstlers Hein Lohe. Er lebt seit acht Jahren hier, nennt
sich selbst einen „Graffiti-Opa“. Nach Loitz sei er wegen der „morbiden
Jungfräulichkeit“ des Ortes gekommen. „Ich bin einfach an offensichtlich
herrenlose beziehungsweise ungepflegte Wände herangegangen, und
seltsamerweise hat es niemanden gestört.“ Im Gegenteil: Er habe viel
Zuspruch für seine Farbe bekommen, sagt der zunächst unauffällige
Endfünfziger, der in Loitz’ ehemaliger Kirche wohnt. Hein Lohes Graffiti
überraschen, geben bröckelnden, grauen Fassaden neuen Optimismus.
Ballsaal-Betreiber Peter Tucholski hingegen ist eigentlich kein richtiger
Neubürger: Sein grau verputzte Fachwerkhaus ist ein Familienerbe. Der
70-jährige Theaterschaffende, Kurator und Kneipier kam aus Berlin nach
Loitz zurück in sein Elternhaus. Im 200 Quadratmeter großen Ballsaal des
ehemaligen Hotels und späteren Internats veranstaltet er heute etwa Tango-
und Salsakurse.
Im großzügigen Hinterhof des Ballhauses, der sich in einer Wiese bis an die
Peene erstreckt, treffen sich an diesem Abend Loitzer Bürger zum Gespräch.
Fast alle sind aus Großstädten nach Loitz gezogen. Die meisten haben die
Hoch-Zeit ihres Berufslebens hinter sich und engagieren sich für die Künste
und die Zukunft ihrer Wahlheimat. Eine echte Aufbruchsstimmung habe es vor
ein paar Jahren in der Kleinstadt gegeben, auch wenn davon nur wenig übrig
geblieben sei.
Von allein kam der kulturelle Neustart nicht. Um dem Strukturverfall im
vorpommerschen Hinterland die Stirn zu bieten, nahm Loitz 2015 am
bundesweiten Wettbewerb „Zukunftsstadt 2030+“ teil. Der Wettbewerb, den das
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausschreibt, stellt
Gemeinden Fördermittel zu Verfügung. Die Bürger sollen zusammen mit der
Verwaltung eine ganzheitliche und nachhaltige Vision 2030+ für ihre Kommune
entwickeln. Die Mittel sind für die Umsetzung von Ideen, nicht aber für
konkrete Investitionen gedacht.
Eines der für die Ausschreibung erdachten „Leuchtturmprojekte“ ging etwa
so: Loitz lockt kreative Großstadtmenschen mit einem Basiseinkommen in
seine leerstehenden Häuser – für die sie als Gegenleistung ein
Nutzungskonzept erstellen sollen.
In einem dieser Häuser lebt heute Bernd Borgmann. „In das Projekt
Zukunftsstadt haben die Leute Hoffnung gesetzt“, sagt der Rechtsanwalt aus
Berlin. Direkt gegenüber Tucholskis Ballsaal betreibt er die Galerie
„Peenerei“, wo sich die Bürger in der ersten Projektphase zusammengesetzt
und Ideen entwickelt haben. Aus dem dafür gegründete Partizipationsbüro
wurden 30 Projekte eingereicht.
„Es sollte immer was für die Allgemeinheit abfallen. Wir wollten Menschen,
die sich hier realisieren können. Leider wurde das Engagement dann paternal
übernommen“, beklagt Peter Tucholski. Er kritisiert damit, dass die
Gemeinde die Umsetzung der Projekte später an die Agentur Fint übergab: ein
gemeinnütziger Verein mit dem Ziel, „Kunst und Kultur, Bildung und den
Klimaschutz zu fördern“.
Das Gleichgewicht zwischen sogenannten Leuchtturmprojekten, kleinen
Projekten und der Lebenswelt der Menschen vor Ort sei dadurch gestört
worden. „Die Kommunikation ist weggebrochen. Die Bevölkerung fühlte sich
zunehmend fremdbestimmt, zog sich zurück. Häme breitete sich aus. Weil
nicht sichtbar war, was mit den Geldern passiert. Die Außensicht auf das
Projekt wurde immer kritischer“, sagt Borgmann. Eine zentrale Kritik: „Es
entstehen keine Arbeitsplätze.“
Nach Borgmanns Recherchen seien von den 635.000 Euro, die zur Verfügung
standen, allenfalls 180.000 bei den Projekten angekommen. „350.000 für die
Agentur Fint. 60.000 haben die für Kinowerbung in Berlin ausgegeben“, hat
Borgmann errechnet. Der Rest sei in der Verwaltung versickert.
„Kleine Gemeinden sind nicht in der Lage, mit großen Fördergeldern
umzugehen“, meint auch Netty Riesinger, die ein hübsches Haus mit
Ausstellungsraum ein paar Meter weiter unterhält. „… und sie vertrauen sich
selbst nicht“, fügt Borgmann hinzu. Die Verwaltung übernimmt nicht die
Verantwortung, aus Angst Fehler zu machen. Das sei „Vermeidung von
Demokratie“ durch die Verwaltung.
Bürgermeisterin Christine Witt (CDU) widerspricht: „Wir haben uns nicht der
Verantwortung entzogen“, die Umsetzung durch eine Agentur sei schon seit
dem Ursprungskonzept vorgesehen.
Veronika Busch von der Agentur Fint vermisst ebenfalls mangelnde
Kommunikation und Rückkopplung bei den unterschiedlichen Phasen des
Projekts, was durch Corona noch verstärkt worden sei. „Mittendrin hat sich
auch noch der Führungsstil in der Verwaltung verändert. Als später
hinzugezogener Dienstleister saßen wir plötzlich zwischen den Stühlen. Wir
haben trotz der Umstände versucht, die Projektziele zu erreichen.“
Zum Beispiel diese teure Kinowerbung für Loitz: Die von Fint in Auftrag
gegebenen Werbespots zeigen das coole, naturnahe Leben an der Peene. Ein
Biotop für stadtmüde Kreative. „Das hat auf jeden Fall viel Aufmerksamkeit
für Loitz gebracht“, sagte Veronika Busch.
„Viel medialer Wind, wenig Konkretes“, meint Peter Tucholski dagegen unter
Zustimmung seiner Nachbarn bei der Gesprächsrunde in seinem Garten.
Geblieben sind neben verschiedenen Kulturprojekten immerhin ein
Mehrgenerationenhaus mit Arztpraxen und 20 Wohneinheiten sowie ein Verein
zur Umnutzung der alten Stärkefabrik.
Hier war gerade die Ausstellung „Cc: Kampagne“ der Hochschule für Künste …
Sozialen in Ottersberg zu sehen. Ein Jahr lang haben sich acht
Künstler*innen mit dem Gelände der Stärkefabrik auseinandergesetzt: mit
der Geschichte des Ortes, Arbeitsprozessen und -materialien. Daraus sind
künstlerische Arbeiten entstanden, die sich mit Heimat und Zukunft der
Stadt sowie dem aufgelassenen Fabrikgelände auseinandersetzen. Die
entstandenen Kunstwerke umfassen Fotografien, Zeichnungen, Installationen,
Performances und Videos mit Befragungen der Menschen im Ort. Ein
engagierter Auftritt für einen verfallenden Ort und für Loitz.
Martina Brinkmann ist im Verein zur Nutzung der Stärkefabrik aktiv. Die
gebürtige Loitzerin war jahrelang in anderen Teilen der Republik unterwegs.
Sie ist gerne in ihre Geburtsstadt zurückgekommen. „Loitz war zu DDR-Zeiten
sehr belebt, viele Geschäfte, acht Kneipen und Kinder auf der Straße. Wir
glauben, trotz alledem, dass es hier viel Potenzial gibt. Wir setzen uns
jetzt zusammen, um konstruktiv aufzuarbeiten, was falsch gelaufen ist.“
Dabei kann sicherlich Peter Dehne, Professor für Planungsrecht und Bauwesen
an der Hochschule Neubrandenburg, helfen. Er hat das Projekt
wissenschaftlich begleitet. „Ich bin überzeugt davon, dass von dem Projekt
etwas bleibt. Das, was unser Ziel war, Aufmerksamkeit zu bekommen und Ideen
zu entwickeln, hat auch funktioniert“, sagt er. Solche Modellvorhaben und
Wettbewerbe könnten immer dazu beitragen, dass sich was bewegt. Solche
begrenzten Förderungen für den ländlichen Raum seien wichtig. Aber sie
reichten nicht aus.
„Dass es Spannungen gibt zwischen Verwaltung, einer eloquenten, zugezogenen
Szene und Menschen, die andere Prioritäten für sich setzen, ist nicht
ungewöhnlich“, sagt Dehne. Hinzu käme: Die Verwaltung sei nicht groß. „D…
ist das Grundproblem von kleinen Gemeinden. Dass sie jemanden beauftragen,
ist ganz normal. Das geht aus meiner Sicht nicht anders. Aber vielleicht
hätten sich Verwaltung und Politik stärker mit dem Projekt identifizieren
können.“
Der Konflikt sei unvermeidlich. „Eine Stadt ohne unterschiedliche Menschen
und Lebensentwürfe hat keine Entwicklungsperspektive. Am Ende“, so Dehne,
„lebt der ländliche Raum von den Menschen, die dort sind.“
30 Jul 2022
## LINKS
[1] https://www.fona.de/de/massnahmen/foerdermassnahmen/wettbewerb-zukunftsstad…
[2] http://www.naturpark-flusslandschaft-peenetal.de/
[3] http://www.ballsaal-tucholski.de/
## AUTOREN
Edith Kresta
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