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# taz.de -- Kunst über eine Kleinstadt in Vorpommern: Verschwinden und Wiederk…
> Wiederholt hat sich die Künstlerin Barbara Camilla Tucholski mit ihrer
> vorpommerschen Heimatkleinstadt beschäftigt. Nun ist „Loitz“ in Schwerin
> zu sehen.
Bild: Zunehmend verwaiste Einkaufsstraße, farbig akzentuiert: „Window Shoppi…
Es ist eine biografische Erkundung und zugleich eine erzählerische
Untersuchung; „Zeichnung, Malerei, Skulptur, Installation und
Künstlerbuch“, so formuliert es [1][der Schweriner Kunstverein]: Schlicht
„Loitz“ heißt die derzeit dort laufende Ausstellung des, eben, nicht nur
zeichnerischen Werks von Barbara Camilla Tucholski. Loitz, das ist [2][eine
Kleinstadt im Landkreis Vorpommern-Greifswald], die Peene fließt daran
vorbei, die Ostsee ist auch nicht schrecklich weit weg.
Hier ist [3][Barbara Camilla Tucholski] geboren worden, am 7. September
1947 um 7 Uhr im einem Zimmer Nummer 7, heißt es. In drei Kapiteln hat die
Künstlerin sich dem Ort ihres Aufwachsen gewidmet: „Im Schloss meiner
Erinnerung“ von 2007, „Das Glück dieser Erde“, entstanden ein Jahr spät…
und schließlich „Window Shopping“ im selben Jahr und im Jahr darauf
umgesetzt.
Die Eltern führten einen Gasthof mit Fremdenzimmern, „In meines Vaters Haus
gibt es viele Zimmer“, ist nun biblisch auf einem Zwischenblatt in
Tucholskis Buch vermerkt. Es gab einen Ballsaal als eigentliches Zentrum
der Erwachsenenwelt: Am Abend wurde Musik gespielt, Gläser klirrten,
Gelächter. „Nachts war der Saal voller Stimmen und morgens früh
menschenleer“, schreibt Tucholski. Das muss beeindruckend gewesen sein –
und prägend: Ein Kind wacht auf und alles ist wieder still. Als wäre gar
nicht gewesen, was doch war.
1953, fünfeinhalb Jahre alt war da das Kind, verließ die Familie heimlich
das Haus. Verließ die kleine Stadt, ja: gleich das ganze Land namens DDR.
Da war dann wirklich alles weg, am nächsten Tag, in West-Berlin; kam auch
nicht wieder, am neuen Ort im Westen; nach etlichen Umzügen landete die
Familie irgendwann im Ruhrgebiet. All die Zimmer und der zentrale Saal
waren verschwunden, die Verwandten und Nachbarn – und der Hund, vom Kind
ganz besonders vermisst.
## Schicksal bestimmende Begegnungen
Barbara Camilla Tucholski studierte Kunst an der Akademie Düsseldorf, 1970;
es folgte ein Studium der Kunstgeschichte in Bonn. Noch viel später, 1995,
wurde Tucholski dann Professorin für Kunst und ihre Didaktik an der
Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Sie hat ausgestellt, in Wien und
Rostock etwa, in Köln und Hamburg: „Arkadien“ oder,,Pusteblume“ oder auch
„Menschen, Tiere und Kanonen“ heißen ihre zeichnerischen Zyklen.
Dazwischen entfaltete sich ihr Loitz-Projekt, denn mitten in ihrer
künstlerischen Laufbahn lag 1989, genauer: der 9. November. Da fiel eine
Grenze, und im Jahr darauf verschwand gleich ihr ganzes altes Land.
Tucholski reiste das erste Mal zurück nach Loitz. Und hatte – auch davon
erzählt die Ausstellung – Schicksal bestimmende Begegnungen: Ihr Elternhaus
stand noch wie einst, rosafarben zeichnete sie es, eingezwängt in eine
Häuserreihe seinen Platz behauptend. Und auf der Straße begegnete sie zwei
Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Sie sind in etwa so alt, wie sie
und ihr Bruder damals gewesen sein mögen, beim Weggehen; Tucholski sprach
sie an, malte und zeichnete die beiden. Nun hängen „Niko“ und „Jana“ im
dritten Raum der Ausstellung.
Tucholski kehrte auch in ihr Elternhaus zurück, zeichnete vor Ort: die
Treppe zum Ballsaal; die siebenarmige Lampe an der Decke; das Bett,
verborgen hinter einem Schrank. Die Ecke schließlich, in der ihr
Kinderwagen stand und von wo aus sie in die Welt geschaut hat. Nicht, dass
sie sich noch daran erinnern dürfte, so klein wie sie damals war; was sie
aber tut – nur eben auf zeichnerische Weise, die einzig zählt.
Da, wo um Loitz herum die Felder beginnen, entdeckte die zurückgekehrte
Künstlerin eines Tages einen langgezogenen Flachdachbau. Darin: ein langer
Flur, von dem, wieder, viele Zimmer abzweigen. Ursprünglich errichtet als
Lehrlingsheim für die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, wurde
das Gebäude in den späteren 1970er-Jahren einem neuen Zweck zugedacht:
Daraus wurde ein Ferienheim für Pferdefreunde, Amateure und Profis.
## Ein neuer Kultur-Verein
Heute steht es leer, einerseits. Andererseits sind da noch die Möbel, die
Tapeten, die Bilder, mit Hilfe derer man den Gästen offenbar ein wenig
ästhetischen Geschmack beibringen wollte: Kopien von Dürers „Hase“ oder e…
„Blumenstrauß“ nach Breughel, dazu jede Menge Pferdemotive. „Zimmer 2,
Nordlage, zwei Pferdebilder“ hat Tuchowski auf einem nächsten Zwischenblatt
notiert.
Sie machte sich mit dem Bau vertraut, begann vor Ort zu malen und zu
zeichnen; stellte in den Zimmern aus. Und sie nahm irgendwann ihre
StudentInnen mit, schaffte einen Ort zum gemeinsamen Arbeiten. So privat
ihre Familiengeschichte ist, so universell ist das Projekt, den Ort und
seine Geschichte(n) zu erfassen. Weshalb der nächste Schritt folgte zurück
im Zentrum von Loitz, wo in der einstigen Einkaufsstraße die allermeisten
Geschäfte längst leer stehen: Die verlassenen Fensterfronten bestückte
Tucholski mit einfarbigen Leinwänden, die Straße hoch und wieder runter.
Mittlerweile hat sie den
Landwirtschafts-Lehrlingsheim-Pferdebilder-Flachbau gekauft, seit 2014
residiert darin [4][der Verein „Künstler Gut Loitz“] mit wechselnden
Ausstellungen – und Barbara Camilla Tucholski als Vorsitzender. So schließt
sich der Kreis aus Herkunft, Weggehen, Wiederkommen und Weitergeben. Im
Schweriner Kunstverein, einst selbst Reparaturwerkstatt des städtischen
Elektrizitätswerks, ist Tucholskis dreiteiliges Loitz-Projekt nun erstmals
zu sehen – in seiner ganzen schönen Vielfalt und überzeugenden Stringenz.
19 Jul 2024
## LINKS
[1] /!5793866
[2] https://www.filmkunstfest.de/festivalprogramm/programm-film?VNr=3208
[3] http://www.kunstverein-schwerin.de/2024/bct/
[4] https://www.kuenstler-gut-loitz.de/
## AUTOREN
Frank Keil
## TAGS
Ausstellung
Schwerpunkt Ostdeutschland
Mecklenburg-Vorpommern
Kino
Asylrecht
Schwerpunkt Stadtland
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