| # taz.de -- Der Bundeskanzler auf Balkanreise: Das Beste aus zwei Welten | |
| > Olaf Scholz will die festgefahrenen Beitrittsverhandlungen der | |
| > Westbalkanländer beleben. Hintergrund ist die Sorge, dass Russlands | |
| > Einfluss wächst. | |
| Bild: In der Rolle des Vermittlers: Scholz trifft auf Kiril Petkow, Ministerpr�… | |
| Pristina, Belgrad, Skopje und Sofia taz | Ein kurzes Rein und Raus mit | |
| Fototermin, das sei nicht so seine Sache, hatte Olaf Scholz kürzlich | |
| gesagt. Damit meinte er aber die Ukraine. Das es doch geht, zeigt seine | |
| zweitägige Balkanreise. Vier Länder des Westbalkans besucht der Kanzler am | |
| Freitag und Samstag und macht unterwegs noch einen Zwischenstopp in | |
| Griechenland. Etwa drei Stunden verbringt er in der Regel vor Ort, die | |
| Besuche verlaufen nach dem Muster: Rein – Gespräch – Fototermin – Raus. | |
| Begleitet jeweils von Blaskapellen, die die deutsche Nationalhymmne in | |
| verschiedenen Klangfarben, von blechern über scheppernd bis | |
| melodisch-gefühlvoll intonieren. Dass der Kanzler über den Balkan fegt, | |
| hängt aber auch mit der Ukraine zusammen. | |
| Um die europäische Integration voranzubringen und den russischen Einfluss | |
| in der Region zu begrenzen, hält es das Kanzleramt für angezeigt, wieder | |
| Schwung in den Beitrittsprozess der Westbalkanstaaten zu bringen. Die vier | |
| offiziellen Beitrittskandidaten – Albanien, Serbien, Montenegro und | |
| Nordmazedonien – stecken seit Jahren im Kandidatenstatus fest, ohne dass es | |
| einen konkreten Beitrittstermin gibt, oder wie im Falle von Nordmazedonien | |
| und Albanien überhaupt den Start von Verhandlungen. | |
| Das sorgt vor Ort für Frust, die einstige EU-Begeisterung schwindet in den | |
| jeweiligen Bevölkerungen. Von der EU enttäuschte Länder gepaart mit einem | |
| aggressiven Russland, das Nachbarländer überfallt und nach jeder | |
| Gelegenheit greift, um Zwist unter den Europäern zu säen – das ist derzeit | |
| eine gefährliche Koinzidenz. | |
| Dazu kommt, dass auch die Ukraine nun in die EU will, die EU-Kommission | |
| könnte schon am Freitag eine Empfehlung abgeben. Kommissionschefin Ursula | |
| von der Leyen war am Wochenende ebenfalls unterwegs in Sachen Beitritt und | |
| auf Überraschungsbesuch in Kiew. Wenn aber die Ukrainer sich vordrängeln | |
| dürften, während andere jahrelang Schlange stehen, könnte das bei aller | |
| Solidarität für großes Murren sorgen. | |
| ## Eine Reise in die Schmerzzonen | |
| Also macht der Bundeskanzler den Beitritt der Westbalkanländer wie einst | |
| seine Vorgängerin zur Chefsache und will ein neues Zeichen der Zuversicht | |
| senden, „dass dieser Beitrittsprozess von der EU gewollt ist.“ Aus Sicht | |
| des Deutschen hat die EU hier einen Ruf zu verlieren. Meint sie es | |
| tatsächlich ernst mit der europäischen Integration und belohnt jene, die | |
| sich anstrengen. Oder büßt sie an Glaubwürdigkeit ein und gibt Russland | |
| Gelegenheit, sich als Partner in der Region anzudienen. | |
| Scholz, der abgesehen von Fototerminen, auch was bewegen will, reist | |
| deshalb direkt in die Schmerzzonen. Denn dass der einst vollmundigt | |
| verkündete Beitritt der Westbalkanländer sich seit fast 20 Jahren | |
| dahinschleppt, liegt nicht nur an einer erweiterungsmüden EU, sondern auch | |
| an ungelösten Konflikten in der Region. | |
| Da ist zum einen das angespannte Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo. | |
| Serbien erkennt die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an, sondern betrachtet | |
| es als abtrünnige Provinz. [1][Die Beitrittsverhandlungen laufen seit acht | |
| Jahren, Perspektive unklar]. | |
| ## Das Muster: Erst die Willigen, dann die Blockierer | |
| Und da ist das kleine Nordmazedonien, das seit 17 Jahren Beitritts-Kandidat | |
| ist und noch immer auf eine Einladung zu entsprechenden Verhandlungen | |
| wartet. Erst blockierte das EU-Mitglied Griechenland, dann hatten die | |
| Franzosen Bedenken und aktuell legt Bulgarien sein Veto ein. Alle 27 | |
| EU-Mitglieder müssen der Aufnahme eines neuen Mitglieds zustimmen. | |
| Scholz Reise folgt einem klaren Muster: Erst die Willigen, dann die | |
| Blockierer. Und: Erst mal ne Ansage machen, dann schauen was sie auslöst. | |
| Da die Kontrahenten jeweils aufmerksam die Pressekonferenzen im jeweils | |
| anderen Land verfolgen, sorgt diese Taktik auch für entsprechend Bewegung, | |
| zumindest am Rande des sonst starren Protokolls. | |
| Als der Kanzler am Freitagvormittag im Kosovo verkündet, nur Länder die | |
| gegenseitig ihre Unabhängigkeit respektierten, könnten Mitglied der EU | |
| werden – eigentlich eine Binse – treibt das dem serbischen Präsidenten | |
| Aleksandar Vucic am Nachmittag hektische, rote Flecken ins Gesicht. Davon | |
| höre man zum ersten Mal, behauptet Vucic, um dann fast unterwürfig zu | |
| beklagen: Ob man glaube, Serbien drohen zu müssen. „Deutschland ist groß | |
| und mächtig, wir sind klein.“ Das ist umso skurriler als Vucic den Kanzler, | |
| der neben ihm steht, um mindestens einen Kopf überragt. | |
| ## Fast ein postsozialistisches Reenactment in Belgrad | |
| Vucics Auftritt ist eine große Show, vor allem gedacht fürs heimische | |
| Publikum, deren Titel lauten könnte: Die Verteidigung der serbischen | |
| Interessen durch Aleksandar Vucic gegen den Druck der deutschen Großmacht. | |
| Die ziemlich gleichgeschalteten Medien übertragen den Besuch des Deutschen | |
| Kanzlers live, die Straßen der Hauptstadt sind entlang der Reiseroute mit | |
| deutschen und serbischen Fähnchen beflaggt, alle Zufahrtsstraßen gesperrt. | |
| Fehlen bloß noch Menschenmassen mit Winkelementen entlang der Strecke, | |
| fertig wäre das postsozialistische Reenactment. | |
| Überhaupt scheint der Pomp, mit dem der Besuch des Bundeskanzlers | |
| zelebriert wird, in umgekehrtem Verhältnis zur Bereitschaft ernsthafter | |
| Zugeständnisse zu stehen. Vucic lässt jedenfalls nicht erkennen, dass er | |
| seine zweigleisige Politik, die einerseits auf Russland als Verbündeten und | |
| Lieferanten billigen Gases setzt und andererseits auf die EU, aufgeben | |
| will. | |
| [2][Als einziges europäisches Land hat Serbien bislang keine Sanktionen | |
| gegen Russland verhängt.] Als Scholz forderte, Serbien solle diese umsetzen | |
| und am besten „jetzt und nicht wenn alles vorbei ist“, wendet Vucic ein: | |
| Man verurteile den russischen Überfall auf die Ukraine, aber bei Sanktionen | |
| „da haben wir eine andere Position.“ Hier will einer das Beste aus zwei | |
| Welten für sein Land bewahren. | |
| In Deutschland hofft man darauf, dass die Attraktivität Russlands schwindet | |
| je mehr die Sanktionen wirken und Russland ökonomisch geschwächt wird. Doch | |
| es bleibt abzuwarten, ob das tatsächlich ein Selbstläufer ist oder ob die | |
| EU Staaten wie Serbien doch weitere Brücken bauen muss. | |
| In der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje ist am Tag darauf alles drei | |
| Stufen schlichter. Der rote Teppich ist durchweicht und die Grünpflanzen im | |
| Regierungsgebäude kämpfen tapfer ums Überleben. Dennoch scheint Scholz sich | |
| hier wohler zu fühlen als im luxuriös ausgestatteten serbischen | |
| Regierungspalast, wo kunstvolle Blumengestecke süßlich dufteten. | |
| Es sei wirklich schön hier zu sein, sagt Scholz im kargen nordmazedonischen | |
| Regierungssitz. Gleich zweimal posieren er und Ministerpräsident Dimitar | |
| Kovacevski händeschüttelnd für die Kameras. Es es sei ja auch bereits der | |
| zweite Besuch des Kanzlers innerhalb kurzer Zeit, freut sich der | |
| Nordmazedonier. Man merkt, Scholz will zeigen, dass er sich wirklich | |
| kümmert. | |
| Anders als Serbien trägt Nordmazedonien die Sanktionen gegen Russland mit | |
| und ist dennoch noch viel weiter vom EU-Beitritt entfernt. Alles | |
| Händeschütteln kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass man in Skopje | |
| gründlich frustriert ist über die EU. Man könne nicht ständig Opfer der | |
| EU-Gipfel sein, beschwerte sich Kovacevski im Beisein von Scholz. Schon in | |
| zwei Wochen, am 23. und 24. Juni, treffen sich die EU-Staatschef:innen | |
| erneut zur Ratssitzung. Eingeladen sind auch die Westbalkanländer. Man | |
| erwarte dort, den Beginn der Beitrittsverhandlungen, sagt der | |
| Nordmazedonier bestimmt. „Wir brauchen jetzt grünes Licht zu EU-Beitritt.“ | |
| Mazedonien verdiene das zu 100 Prozent. | |
| Und in der Tat hat Nordmazedonien etliche Verrenkungen gemacht bis hin zur | |
| Änderung des eigenen Namens von Mazedonien in Nordmazedonien, ohne dass es | |
| dem Land bisher genützt hat. In der Bevölkerung sei die Zustimmung zum | |
| EU-Beitritt von 75 auf inzwischen nur noch 55 Prozent gefallen, berichtet | |
| der nordmazedonische Journalist Luka Andreev vom Fernsehsender Alsat-M. | |
| „Und mit jedem neuen Veto sinkt sie weiter.“ | |
| ## Relativierung und Vermittlung in Sofia | |
| Ob der 23. Juni die Wende bringen werde, wird Scholz von der | |
| nordmazedonischen Presse gefragt. Und der Kanzler antwortet in ungewohnter | |
| Klarheit: Aus seiner Sicht könne die erste Beitrittskonferenz sofort | |
| starten. „Nordmazedonien und Albanien haben es verdient, dass die Gespräche | |
| beginnen.“ | |
| Eine klare Ansage, die der bulgarische Ministerpräsident Kiril Petkow vier | |
| Stunden später relativiert. Die Gespräche gingen weiter, aber Bulgarien | |
| habe eben klare Bedingungen formuliert. Bedingungen, die die kulturelle und | |
| sprachliche Identität der Nordmazedonier betreffen und die Anerkennung von | |
| Bulgaren als geschützte Minderheit. Was nach einem Streit über | |
| Befindlichkeiten klingt, [3][hat in Bulgarien gerade zum Bruch der | |
| Koalition geführt.] Petkow wurde Verrat vorgeworfen, er habe heimlich | |
| Zugeständnisse machen wollen. Keine einfache Situation für den | |
| Regierungschef, um mal eben eine schnelle Einigung herbeizuführen und den | |
| Weg für Nordmazedonien in die EU freizugeben. | |
| Ob Scholz eine Lösung habe oder nur als Vermittler komme, fragte ihn eine | |
| bulgarische Journalistin. Letzteres ist der Fall. Der Bundeskanzler kann | |
| nur an die Bulgaren appellieren fair zu bleiben und das was sie selbst | |
| erfahren hätten, nämlich die EU-Mitgliedschaft, auch anderen zu gewähren. | |
| Ob beim EU-Gipfeltreffen in zwei Wochen für die Länder des Westbalkans ein | |
| neues Kapitel auf ihrem Weg in die EU aufgeschlagen wird, ist ungewiss. | |
| Journalist Andreev glaubt nicht daran. | |
| Bei diesem Gipfel könnte aber auch die Entscheidung fallen, ob die Ukraine | |
| Beitrittskandidatin wird. Den Beweis, dass das nicht bloß ein anderer | |
| Ausdruck für „Warteschleife“ ist, ist die EU noch schuldig. | |
| 12 Jun 2022 | |
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| Anna Lehmann | |
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