| # taz.de -- Lehre aus der Corona-Pandemie: Gewappnet für Krisen? | |
| > Die nächste Katastrophe wird kommen. Das Büro für | |
| > Technikfolgenabschätzung plädiert für einen „Krisenradar“, um vorberei… | |
| > zu sein. | |
| Bild: Naturkatastrophen lassen sich nicht verhindern, umso wichtiger ist es, da… | |
| Berlin taz | Eine Krise: anpacken, bewältigen, fertig. Das war einmal. | |
| Inzwischen leben wir in Zeiten multipler und systemischer Krisen, die sich | |
| gegenseitig antreiben und nicht mehr aufhören wollen: Klima, Corona, Krieg, | |
| Inflation, Welternährung, Lieferketten. Der Thinktank des Bundestages, das | |
| Büro für Technikfolgen-Abschätzung (TAB), arbeitet an einem „Krisenradar“ | |
| für die Politik, um besser für Umbrüche gewappnet zu sein. In dieser Woche | |
| gab das Wissenschaftsgremium Einblick in seine Arbeit. | |
| Ein wesentliches Problem, um zu mehr [1][„Resilienz“ – dem neuen Modewort | |
| für Widerstandsfähigkeit gegen Krisen] – zu gelangen, liegt in der | |
| unterschiedlichen Wahrnehmungsschwelle der Akteure. Die | |
| Politikwissenschaftlerin Ilona Kickbusch ist Mitglied im „Global | |
| preparedness monitoring board“ (GPMB) von Weltgesundheitsorganisation WHO | |
| und Weltbank. „Im September 2019 haben wir einen Bericht vorgelegt, wonach | |
| eine weltweite Pandemie zu erwartet ist“, berichtete sie am Mittwoch im | |
| Bundestag. „Aber keiner hat sich dafür interessiert“, so ihr frustrierter | |
| Rückblick. | |
| Drei Monate später kam es tatsächlich zum Corona-Ausbruch in China. Krisen | |
| werden künftig häufiger kommen, sagte Kickbusch mit Blick auf den | |
| Gesundheitsbereich voraus. Wichtig dabei sei, dass in der „Preparedness“ – | |
| dem Vorbereitetsein – auch die Ausstattung für eine „schnelle Response“ | |
| enthalten sei. | |
| Die Problemsicht von der anderen Seite brachte die frühere | |
| SPD-Bundestagsabgeordnete und langjährige Vorsitzende des | |
| Forschungsausschusses Ulla Burchardt ein. Sie gab unumwunden zu, dass die | |
| inzwischen legendäre Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) über eine | |
| mögliche Pandemiesituation in der Bundesrepublik aus dem Jahre 2013 von ihr | |
| nicht wahrgenommen worden sei. | |
| „2020 musste ich feststellen: das wusste ich nicht“, so die Politikerin. Im | |
| Wust der täglichen Detailinformationen, die auf die Abgeordneten | |
| einprasseln, war diese wichtige Basisorientierung untergegangen. „An der | |
| Lücke zwischen wissenschaftlichen Informationen und politischen | |
| Entscheidungen muss gearbeitet werden“, bekräftigte Burchardt. Sie regte | |
| eine Folgeuntersuchung darüber an, wie viele der RKI-Vorschläge von 2013 | |
| heute schon realisiert worden seien. | |
| ## Potenzielle Gefahren erkennen | |
| Das Konzept des Krisenradars erläuterten Siegfried Behrendt und Michaela | |
| Evers-Wölk vom Berliner Institut für Zukunftsstudien und | |
| Technologiebewertung (IZT) als Konsortialpartner des TAB. Zwar gebe es eine | |
| ganze Reihe verschiedener Frühwarnsysteme von Behörden, Mittels Kennzahlen | |
| und Indikatoren sollen frühzeitig potenzielle Gefahren, Bedrohungen und | |
| Risiken identifiziert werden. „Mit der Digitalisierung bieten sich neue | |
| Möglichkeiten für effektivere Erhebungs-, Auswertungs- und | |
| Modellierungsverfahren der Frühwarnung“, so die IZT-Experten. | |
| Bei der konkreten Untersuchung der Abläufe der Coronapandemie in | |
| Deutschland seit 2020 traten dann erhebliche Defizite zutage, die einer | |
| angestrebten Resilienz im Wege stehen. Unzureichend ist etwa die | |
| Datengewinnung für eine Bewertung des Realzustandes, betonte Evers-Wölk. | |
| Die Inzidenzzahlen, basierend auf den Meldedaten der Gesundheitsämtern, | |
| enthielten eine zu große Dunkelziffer unerkannter Fälle. | |
| Besser wäre eine nationale Teststrategie bei einer Bevölkerungs-Stichprobe | |
| nach britischem Vorbild. Auch andere Techniken zur Messung der | |
| Virusverbreitung, wie „abwasserbasierte Systeme“, könnten zur mehr | |
| Präzision und Schnelligkeit führen. Ohne Echtzeitdaten sei eine | |
| Krisenabwehr nicht möglich. | |
| Teil des IZT-Krisenradars ist auch eine repräsentative Bevölkerungsumfrage | |
| unter 1.098 Bürgern im März 2022. Danach hat die deutliche Mehrheit der | |
| Befragten die Coronapandemie nach eigener Einschätzung gut oder eher gut | |
| bewältigt. Die stärksten persönlichen Belastungen wurden in der | |
| Einschränkung sozialer Kontakte gesehen. 52 Prozent litten darunter. Die | |
| eingeschränkten Freizeit- und Reisemöglichkeiten waren dagegen nur für 30 | |
| Prozent ein schmerzlicher Verlust. | |
| Fast die Hälfte der Befragten gab an, während der Coronapandemie „neue | |
| Alltagsroutinen entwickelt zu haben“, stellte die Studie fest. Zu den | |
| Beispielen, die auch nach der Coronapandemie beibehalten werden sollen, | |
| zählen einfache Hygieneregeln im Alltag wie [2][das Tragen von Masken,] | |
| das häufige Händewaschen oder das bewusste Abstandhalten im öffentlichen | |
| Raum. Gegenüber dem Staat zeigten mehr als zwei Drittel der Befragten | |
| während der Coronapandemie Verständnis für Politik und Verwaltung. 67 | |
| Prozent waren auch mit der zeitweisen Einschränkung von Freiheitsrechten | |
| einverstanden. | |
| ## Eine relevante Frage: Welche Sorgen löst die Krise aus? | |
| Wichtig für die Einschätzung anderer Krisen war die Ermittlung einer | |
| „Rangliste der Sorgen“. Dabei ängstigen soziale Krisen die Menschen mehr | |
| als Naturkatastrophen. Mit 75 Prozent bereiten „Konflikte zwischen Staaten“ | |
| den meisten Menschen Sorge. Es folgt mit 60 Prozent der soziale Unfrieden | |
| im eigenen Land und mit 58 Prozent die Sorge vor zunehmender Des- und | |
| Falschinformation. Das Scheitern der Klimamaßnahmen sorgt 45 Prozent der | |
| Menschen noch vor den 42 Prozent, die Angst vor der Flüchtlingskrise haben. | |
| Bei den durch die Natur verursachten Krisen gilt die größte Sorge mit 42 | |
| Prozent den Unwettern und extremen Wetterereignissen vor Waldbränden mit 22 | |
| Prozent. Erstaunlicherweise kommen in dieser [3][Kategorie Wildseuchen | |
| (Corona stammt von der Fledermaus)] nur auf 17 Pozent Besorgnis. Unter den | |
| Technikkrisen rangieren der Ausfall von kritischen Infrastrukturen | |
| („Blackout“) und die Cyberkriminalität mit 44 Prozent beide auf dem | |
| gleichen Besorgnis-Level, vor einer Nuklearexplosion mit immerhin noch 41 | |
| Prozent. | |
| „Die Ergebnisse der Befragung zeichnen ein Gesamtbild, das überwiegend von | |
| Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in Dritte, von Anpassungsfähigkeit | |
| sowie von Bewältigungsstrategien in Krisenzeiten gezeichnet ist“, bewerten | |
| die IZT-Projektleiter die Umfrage. Trotzdem werde deutlich, „dass | |
| gesellschaftliche Gruppen wie Kinder, Familien und Ältere, gewisse | |
| Wirtschaftsbereiche, aber auch die Allgemeinheit insgesamt als Verlierer | |
| der Coronapandemie eingestuft werden“. | |
| Das Projekt „Krisenradar“ läuft noch bis 2023 und soll in anderthalb Jahren | |
| fertiggestellt sein. Vier weitere Studien wurden vergeben, die helfen | |
| sollen, die zwei zentralen Leitfragen zu beantworten: Welche Defizite | |
| bestehen bei der Früherkennung von systemischen Bedrohungen? Und welche | |
| Instrumente, Einrichtungen und Konsultationsmechanismen im politischen Raum | |
| müssten verbessert oder erst noch geschaffen werden, um eine zügige, | |
| umfassende und nachhaltige Reaktion auf krisenhafte Ereignisse zu | |
| gewährleisten? | |
| „Um künftig besser auf das Auftreten von globalen Schocks vorbereitet zu | |
| sein, ist ein permanentes und globales Frühwarnsystem notwendig, das | |
| mögliche Risiken und Gefahren frühzeitig erkennt und damit ein | |
| vorausschauendes Krisen- und Risikomanagement ermöglicht“, hob IZT-Behrendt | |
| den keineswegs nur national ausgerichteten Forschungsansatz hervor. | |
| Schon jetzt zeichnet sich für die Politik ab – das zeigte das Gespräch in | |
| dieser Woche –, sich verstärkt um eine bessere Infrastruktur für | |
| Krisenresilienz zu kümmern. Der CDU-Abgeordnete Thomas Jarzombek schlug | |
| vor, im nächsten Bundeshaushalt den generellen Etatposten | |
| „Krisenprävention“ einzuführen. „Wenn man keinen Haushaltstitel hat, ist | |
| man in der Politik nichts wert“, war seine Erfahrung. | |
| Die zweite große Baustelle ist die Veränderung des „Mindsets“, die | |
| Schaffung eines „Krisenbewusstseins“. Die Weltfinanzkrise 2008 – obschon | |
| ein gewaltiger öknomischer Schock – habe „nicht ausgereicht, um uns | |
| aufzurütteln“, sagte TAB-Leiter Armin Grunwald. „Wir hatten uns daran | |
| gewöhnt, dass es nach einer Reparatur, immer weiter glatt läuft.“ Diese | |
| Weiter-so-Mentalität sei mit der Coronapandemie durchbrochen worden. Die | |
| einstige „Wird schon werden“-Sorglosigkeit müsse in Zeiten der Resilienz | |
| von einer „Kultur der Prävention“ abgelöst werden. | |
| 23 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Manfred Ronzheimer | |
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