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# taz.de -- Coronabekämpfung in China: Aus Schutz wird Überwachung
> Chinesische Behörden haben die Pandemie genutzt, um soziale Kontrolle im
> Land zu vertiefen. „Null Covid“ diente dabei als politischer Machterhalt.
Bild: Ende Mai 2022 in Schanghai: Friseurbesuch unter staatlicher Aufsicht
Seit fast zwei Monaten steht die Zukunft von Zhang Sheng auf der Kippe: Der
Chinese, der eine kleine Fabrik in der Provinz Zhejiang führt, hat seine
gesamten Ersparnisse bei der örtlichen Bank eingezahlt. Doch wie unzählige
andere Sparer auch hat er keinen Zugriff mehr auf sein Geld. Als sich Zhang
allerdings zu Beginn der Woche mit Gleichgesinnten zum gemeinsamen Protest
in der Zehn-Millionen-Metropole Zhengzhou verabredete, wurde er noch am
Bahnhof festgesetzt: Sein sogenannter Gesundheitscode, den jeder Bürger
seit der Pandemie bei Reisen vorzeigen muss, ist unerwartet von „grün“ auf
„rot“ umgesprungen. Das bedeutet im Klartext: Quarantäne. Die Behörden
führten ihn in eine Hoteleinrichtung ab, ehe er die Stadt unverrichteter
Dinge wieder verlassen musste.
Seit 2020 haben die Behörden in China unter dem Vorwand des
Coronaschutzes einen flächendeckenden Überwachungsstaat aufgebaut, der
noch vor wenigen Jahren undenkbar erschien: In Peking etwa lässt sich kein
Supermarkt mehr betreten, ohne dass sich Besucher mit ihrem Smartphone
digital registrieren. Mindestens alle drei Tage müssen die
Hauptstadtbewohner zudem vor den Testzentren warten, um einen
verpflichtenden PCR-Test zu machen.
Auch vor den Wohnanlagen wachen rund um die Uhr Nachbarschaftskomitees mit
roten Armbinden, um die Bewegungsflüsse der Leute zu kontrollieren: Meist
werden sie zudem von Kameraanlagen unterstützt, die vor der Haustür die
Körpertemperatur und die Identität eines jeden Besuchers erfassen. Und vor
allem muss man überall seinen Gesundheitscode vorzeigen. Er ist wie ein
digitaler Corona-Ausweis, ohne den niemand ein Restaurant, die U-Bahn,
geschweige denn einen Hochgeschwindigkeitszug betreten darf.
Am Beispiel der Bankschuldner von Zhengzhou hat sich nun erstmals offen
gezeigt, was viele Experten seit jeher vermuten: dass die Coronamaßnahmen
in China zunehmend zur sozialen Kontrolle zweckentfremdet werden. Denn wie
sich herausstellte, wurden gezielt Dutzende chinesische Anleger daran
gehindert, gegen die Kommunalbanken zu protestieren, die nach illegalen
Spekulationen die Vermögen von Tausenden Kleinsparern eingefroren hatten.
## Berichte trotz Zensur
Die Reaktion auf den Skandal stimmt zumindest optimistisch. Denn im
Vergleich zu anderen Angelegenheiten, die von der Zensur unter den Teppich
gekehrt werden, konnten einige chinesische Medien offen über die Causa
berichten. Und ebenso bemerkenswert ist auch die offene Kritik selbst von
führenden Parteimitgliedern: „Die Gesundheitscodes sollten nur zu Zwecken
der Pandemieprävention verwendet werden und auf keinen Fall für andere
soziale Regulierungen“, schreibt etwa Hu Xijin, der als ehemaliger
Chefredakteur der nationalistischen Global Times zu den führenden
Publizisten des Landes zählt. Auf seinem Weibo-Account, einer Art
chinesischem Pendant zu Twitter, erhält er dafür großen Zuspruch: „Die
Privatsphäre der Bürger muss geschützt werden. Man darf nicht aufgrund der
Seuchenprävention die zivilisatorischen Prinzipien ignorieren“, schreibt
ein User. Ein anderer meint: „Das Land sollte gesetzmäßig regiert werden.“
Und auch ein in Peking ansässiger Rechtsanwalt schreibt in einem Posting
unmissverständlich: „Wenn andere Städte dieser Art von Missbrauch folgen
werden, dann bleibt von der Rechtsstaatlichkeit nichts mehr übrig.“
Doch gleichzeitig erfolgt jene Art von Missbrauch unter dem Vorwand des
Coronaschutzes alles andere als überraschend. China-Korrespondenten haben
ihn seit Ausbruch der Pandemie bereits wiederholt erfahren: Wer in
„sensiblen“ Regionen auf Reportage ist, wird nicht selten von den
Lokalbehörden mit schikanierenden Maßnahmen an der Arbeit gehindert. Oft
wird von der Sicherheitspolizei eine willkürliche Quarantäne angedroht oder
kurz vor geplanten Interviews zum verpflichtenden PCR-Test aufgerufen,
obwohl der letzte nur wenige Stunden zurückliegt.
Und [1][auch der Lockdown in Schanghai] lässt sich nicht zuletzt als
politische Machtdemonstration gegen die internationale Finanzmetropole
begreifen. Knapp 26 Millionen Einwohner wurden dort zwei Monate in ihre
Wohnungen eingesperrt, dabei hatte der Großteil von ihnen niemals direkten
Kontakt mit Covid-Infizierten.
## Dystopischer Polizeistaat
Die New York Times betitelte die „autoritären Exzesse“ zuletzt in einer
Überschrift als „Xinjiangisierung“ – in Anlehnung an die muslimisch
geprägte Region, in der der chinesische Sicherheitsapparat einen
dystopischen Polizeistaat errichtet hat. Der direkte Vergleich mag absurd
erscheinen, doch die Parallele eines vollkommen überwachten Alltags hält
durchaus stand.
Denn tatsächlich ist die soziale Kontrolle in allen größeren Städten Chinas
seit der Pandemie so engmaschig wie zuletzt wohl unter Staatsgründer Mao
Zedong. Das hat durchaus auch skurrile Folgen: Bereits seit Anfang 2020
stellten sich etliche Verbrecher nach Jahren auf der Flucht freiwillig bei
der Polizei, da ihr Alltag im Untergrund zum unmöglichen Spießrutenlauf
geworden ist. Überall, selbst zum Supermarkteinkauf, mussten sie nun
schließlich ihren Gesundheitscode vorzeigen, der mit der Identität eines
jeden Bürgers verknüpft ist.
Das System basiert auf den GPS-Daten der Smartphone-Nutzer, anhand derer
eine Art dreistufige Risikobewertung ermittelt wird. Wer sich in den
letzten zwei Wochen ausschließlich in Niedrig-Risiko-Gebieten aufgehalten
hat, keinerlei Gebäude mit bestätigten Corona-Infektionen besucht und
regelmäßige PCR-Tests absolviert hat, bekommt demnach einen grünen
Gesundheitscode zugewiesen. Ein gelber Code bedeutet bereits, nicht mehr
reisen zu dürfen. Und mit einem alarmierenden „rot“ darf man de facto nicht
einmal mehr die eigene Wohnung betreten, sondern wird direkt in Quarantäne
abgeführt.
## Feindbild Westen
Dabei sind dies nur die Folgen der direkten Maßnahmen. Die Pandemie hat
zudem auch viele politische Entwicklungen beschleunigt, deren Auswirkungen
noch lange nachwirken werden – allen voran die zunehmende internationale
Isolation der Volksrepublik China.
Zuletzt hatte die Regierung ein De-facto-Ausreiseverbot für die eigenen
Staatsbürger eingeführt. Wer das Land verlassen möchte, muss mittlerweile
einen „essenziellen“ Grund vorweisen können, also etwa ein Auslandsstudium
oder einen gesundheitlichen Notfall in der engeren Familie. Neue Reisepässe
werden zudem nur mehr selten ausgestellt.
Die „Null Covid“-Strategie diente dabei nur als Anlass. Als willkommenen
Nebeneffekt missbrauchen die staatlichen Autoritäten die Pandemie dazu, die
urbanen Bevölkerungsschichten enger an ihr Heimatland zu binden – und ihre
Beziehungen zum ideologisch zunehmend als Feind betrachteten Westen zu
kappen.
## Soziales Experiment
Insofern ist die Coronapandemie in China auch ein riesiges soziales
Experiment, dessen langfristige Folgen wohl erst in vielen Jahren
vollständig absehbar werden. Und je mehr sich die Bevölkerung an den neuen
Normalzustand gewöhnt, desto stärker dürfte die paranoide Parteiführung in
Peking versucht sein, weite Teile der Corona-Überwachung auch auf Jahre
hinaus weiter beizubehalten. Denn unter Xi Jinping mehren sich bereits die
Zeichen, dass die Regierung zunehmend gewillt ist, im Gegenzug für soziale
Kontrolle und den eigenen Machterhalt auch das wirtschaftliche Wachstum zu
schröpfen.
Ob die Strategie aufgeht, wird sich noch zeigen. Zwar hat die Bevölkerung
im heutigen China angesichts einer unterdrückten Zivilgesellschaft und
gleichgeschalteten Medienlandschaft kaum Möglichkeiten zur direkten Kritik.
Dennoch könnte die Lage irgendwann unverhofft kippen. Experten sprechen
oftmals von der sogenannten Kochtopf-Metapher: Damit das Wasser nicht
überläuft, muss der Regierungsapparat den Deckel hin und wieder einen Spalt
weit öffnen. Derzeit jedoch reagiert sie auf die zunehmend brodelnde
Bevölkerung vor allem mit Repression und Zensur.
20 Jun 2022
## LINKS
[1] /Lockdown-in-Shanghai/!5845028
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
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