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# taz.de -- Weizenkrise in der Ukraine: Kampf ums Korn
> Weil der Hafen vermint ist, stecken Millionen Tonnen Getreide in der
> ukrainischen Stadt Odessa fest. Und alternative Wege? Schwierig.
Bild: Ukrainische Bauern haben trotz des Krieges ihre Felder bestellt – wie h…
Odessa taz | Die Ukraine war im Jahr 2021 der [1][fünftgrößte
Weizenexporteur] der Welt. Ein Großteil wird dabei vom Hafen in Odessa in
die Welt verschifft. Doch derzeit verlässt kein Weizenkorn das Land. Denn
Russland blockiert die Ausfuhr von etwa 23,5 Millionen Tonnen Getreide und
Ölsaat. Laut dem ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal verliert
das Land dadurch täglich 170 Millionen Dollar.
Das Getreide sollte dabei eigentlich vor allem nach Nordafrika und Asien
transportiert werden. Wenn dies nicht geschieht, droht eine weltweite
Hungerkrise. Russland schlug deshalb vor, einen Korridor für den Export von
Getreide im Schwarzen Meer zu schaffen. Dafür müsste die Ukraine aber erst
einmal die Minen aus dem Hafen räumen. Die Ukraine hält das Angebot für
eine Falle. So befürchten ukrainische Experten, dass Russland das dann von
Minen geräumte Gebiet nutzen wird, um an der Küste vor Odessa anzulanden
und von dort aus nach und nach die ganze Region einzunehmen.
Seit dem 24. Februar beschießen russische Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge
vom Schwarzen Meer aus die Ukraine. Am 4. Juni schlug eine dieser Raketen
auf die Getreidespeicher im Hafen von Mykolajiw ein. Dieser Speicher ist
der zweitgrößte der Ukraine. Durch den Beschuss brach ein Feuer aus, das
den Speicher vollständig zerstörte. „Es ist klar, dass die russische Seite
eindeutig kein Interesse am Erhalt des ukrainischen Getreides hat. Und die
Freigabe der ukrainischen Häfen für die Ausfuhr von Lebensmitteln könnte
Russland dazu nutzen, noch mehr ukrainisches Gebiet zu erobern“, sagt der
Vorstandsvorsitzende Alexander Nepomnjutschti von der [2][Internationalen
Seeschifffahrts-Organisation] (IMO) dazu.
Auch Andrei Klimenko vom Institut für Strategische Schwarzmeerstudien hält
das Angebot für eine Farce. Für ihn gibt es außer der Beendigung des
Krieges keine andere Möglichkeit, die Blockade der Häfen aufzuheben. So
habe Russland zu Beginn des Angriffskriegs alle Beschäftigten der
Schifffahrt davor gewarnt, dass ein Teil des Schwarzen Meeres bis zur
ukrainischen Küste zum Sperrgebiet erklärt wird, in dem eine sogenannte
Spezialoperation durchgeführt wird. Das bedeutet konkret: Jedes Schiff wird
auf militärische Ausrüstung überprüft. „Und dann stellen wir uns vor,
welcher Schiffseigentümer seine Einwilligung dazu gibt, dass sein Schiff
unter solchen Bedingungen Odessa anläuft? Das ist Erpressung und Piraterie.
Wer versichert unter solchen Bedingungen ein Schiff?“, sagt Klimenko der
taz.
Russische Kriegsschiffe lauern
Klimenko ist schon lange Vorsitzender der Überwachungsgruppe für die
Sanktionen gegen die Krim und die Freiheit der Schifffahrt. Er meint, dass
das russische Militär eine Landung von Kampfeinheiten von zwei Seiten aus
plant: aus westlicher Richtung von der Schlangeninsel im Schwarzen Meer,
die zum Oblast Odessa gehört, und aus östlicher Richtung von der
ukrainischen Hafenstadt Otschakiw, die zu dem Oblast Mykolajiw gehört.
Diese Befürchtungen sind nicht unbegründet. Russische Kriegsschiffe sind in
den letzten drei Monaten täglich in das ukrainische Küstensperrgebiet
eingedrungen. Mehrfach haben sie versucht, Truppen im Küstengebiet von
Odessa an Land zu bringen. Bislang wurden sie aber von ukrainischen Truppen
zurückgedrängt.
Dass Russland die Getreidekrise für militärische Zwecke instrumentalisiert,
sieht Klimenko deshalb als eine reale Bedrohung. So habe Russland im
Schwarzen Meer aktuell zehn große Landungsschiffe. Jedes dieser Schiffe
habe Platz für 300 Marinesoldaten mit Ausrüstung und Waffen. So könnten
dreitausend Soldaten Odessa erobern, um von dort in einem Korridor nach
Transnistrien durchzubrechen, wo sich auch eine russische Militärbasis
befindet. „Außerdem beobachten wir, wie sie ihre militärischen Kräfte auf
der Schlangeninsel konsolidieren, indem sie auf dem Seeweg
Flugabwehrraketensysteme dorthin bringen, um damit eine künftige Landezone
abzudecken“, so Klimenko.
Auch der Sprecher des ukrainischen Außenministerium, [3][Oleg Nikolenko],
meint, dass man dem Angebot nicht trauen dürfe. Russland führe einen
großangelegten Angriffskrieg gegen das gesamte Land. Dass sie sogenannte
„Garantien“ für einen Nichtangriff gegen die Südukraine bei der
Getreideausfuhr geben, ist deshalb wenig glaubwürdig.
Bis Kriegsbeginn wurden aus der Ukraine über den Seeweg monatlich etwa 5
bis 6 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse verschifft. Das
heißt, selbst wenn alles glatt liefe, würde es Monate dauern, das Getreide
auf dem Seeweg zu transportieren. Und noch ein Problem ist aufgetaucht: die
neue Ernte. Denn trotz der Kriegshandlungen haben ukrainische Landwirte
Getreide angebaut, und wollen das natürlich auch ernten. Wenn aber die
Getreidevorräte nicht verschifft werden, kann man die neue Ernte nirgendwo
einlagern. Ukrainische Experten meinen, dass es nur einen Ausweg aus dieser
Situation gibt: Es ist absolut notwendig, die Infrastruktur dahingehend
auszubauen, dass man zusätzliche Getreidesilos baut und
Transportmöglichkeiten auf dem Landweg einrichtet.
Den Vorschlag, Getreideexporte über Belarus zu ermöglichen, empfindet die
ukrainische Seite als blanken Hohn. Der Vorsitzende des ukrainischen
Ausschusses für Verkehr und Infrastruktur, Juri Kisel, schreibt dazu auf
seiner Facebook-Seite: „Ukrainisches Getreide, gesät mit dem Schweiß
unserer Bauern, gewachsen auf unserer Erde, geschützt durch die Heldentaten
unserer Streitkräfte, soll 550 Kilometer durch ein Gebiet fahren müssen,
das vielleicht nicht ein feindliches, aber auch keineswegs ein freundliches
ist.“ Das Getreide über Belarus zu exportieren, würde lediglich Lukaschenko
Geld einbringen und den Russen ein weiteres Druckmittel gegen den Rest der
Welt geben, so Kisel.
Spezielle Getreidewagen nötig
Doch es gibt noch Alternativen: So ist es den Ukrainern gelungen, einen
kleinen Teil ihrer Agrarproduktion über den rumänischen Abschnitt der Donau
zu verschiffen. Experten meinen, man sollte diesen Weg weiter entwickeln
und ausbauen. Für Klimenko gibt es aber ein Problem mit dem Transport von
Getreide über Land. So seien etwa 4.000 spezielle Getreidewagen nötig. Auch
lässt sich über den Schienenverkehr sehr viel weniger Weizen transportieren
als per Schiff. Und das ukrainische Schienensystem müsste auf das
europäische System umgestellt werden, denn noch gibt es verschiedene
Spurbreiten. Außerdem wird eine Kapazität von zweihundert Waggons pro Tag
benötigt. Damit könnte man das Getreide dann sicher nach Polen oder bis zu
den deutschen Seehäfen bringen.
Und das ist nicht völlig abwegig. „Deutschland hat sich bereit erklärt,
jährlich 20 Millionen Tonnen auf seinen Schienenwegen in deutsche Häfen zu
transportieren. Das würde uns sehr helfen“, sagt Klimenko. Auch Polen
möchte die Ukraine beim Export von Getreide unterstützen. So hat sich
Bundesagrarminister Cem Özdemir am Donnerstag [4][mit seinem polnischen
Amtskollegen in Warschau beraten], wie sie dem Land beim Transport helfen
könnten. Die Schwierigkeit sei dabei vor allem die Menge. So könne nicht
alles Getreide über Alternativrouten transportiert werden. Deshalb müsse
man der Ukraine helfen, so schnell wie möglich wieder als eigenständiger
Produzent auf dem Weltmarkt zu agieren. Dass Russland Hunger zur
Verschärfung der Krise einsetze, bezeichnete Özdemir als „zynisches Spiel�…
In der Ukraine sind sich Experten und Regierungsvertreter deshalb einig:
Für eine vollständige Aufhebung der Blockaden der Seewege und die sichere
Ausfuhr von Getreide aus den ukrainischen Lagern muss der Krieg beendet
werden. Die russische Seite muss die Seewarnung vom 24. Februar aufheben,
die Schlangeninsel freigeben und die Kriegsschiffe aus dem Schwarzen Meer
abziehen. Wann und ob das passieren wird, ist jedoch fraglich.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
9 Jun 2022
## LINKS
[1] https://www.weltexporte.de/weizen-export/
[2] https://www.imo.org/
[3] https://twitter.com/OlegNikolenko_/status/1534503807262023684?fbclid=IwAR3x…
[4] https://www.tagesschau.de/ausland/polen-oezdemir-polen-101.html
## AUTOREN
Tatjana Milimko
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