# taz.de -- Hungersnot in Afrika: Das Essen wird unbezahlbar | |
> Seit Jahren steigt weltweit die Zahl derer, die an Hunger leiden. Jetzt | |
> erschwert der Ukrainekrieg die Versorgung zusätzlich. | |
Bild: Eine Mutter ist mit ihren Kindern geflohen vor Hunger und Dürre in Somal… | |
Kaum eine Zahl auf der Welt steigt derzeit so rasant wie die Zahl der | |
Hungernden. 240 Millionen Menschen auf der Welt werden dieses Jahr in einem | |
Zustand der „Ernährungskrise“ leben, prognostizieren das | |
UN-Welternährungsprogramm [1][WFP] und die UN-Agrarorganisation FAO in | |
ihrem neuen Quartalsfrühwarnbericht, der diese Woche veröffentlicht wurde. | |
Vor einem Jahr waren es 193 Millionen. Im Jahr 2020 155 Millionen. Im Jahr | |
2018 113 Millionen Menschen. Die allermeisten leben – oder sterben – in | |
Afrika. | |
Hinter dem Begriff „Ernährungskrise“ verbirgt sich nacktes Elend. Gemeint | |
sind Menschen, die entweder immer wieder nichts zu essen haben oder dafür | |
auf andere essenzielle Ausgaben verzichten – wenn einfaches Essen also zum | |
Luxus wird und man jeden Tag neu überlegen muss, wo die nächste Mahlzeit | |
herkommt. | |
Auf dem [2][UN-]Welthungerindex, der von 1 bis 5 geht, ist die | |
„Ernährungskrise“ aber bloß die mittlere Stufe 3. Stufe 4 ist der | |
„humanitäre Notfall“, Stufe 5 die „Hungersnot“. „Eine Hungersnot“, | |
erläutert das Bündnis Aktion Deutschland Hilft, „wird von den Vereinten | |
Nationen ausgerufen, wenn mindestens 30 Prozent der Bevölkerung akut | |
unterernährt sind, pro Person weniger als vier Liter Wasser am Tag zur | |
Verfügung stehen, die Menschen am Tag weniger als 2.100 Kilokalorien | |
Nahrung zu sich nehmen, kein eigenes Einkommen mehr erwirtschaftet werden | |
kann und mindestens zwei von 10.000 Menschen täglich aus | |
Nahrungsmittelmangel sterben.“ | |
Für 750.000 Menschen weltweit ist dieser Zustand laut UN bereits Realität. | |
Zwei Hungertote von 10.000 Menschen pro Tag – das sind bei 750.000 Menschen | |
4.500 Hungertote pro Monat. Die gibt es jetzt schon. Und es werden mehr. | |
401.000 der 750.000 zählt die UN in Äthiopien. Die Zahl gilt als stark | |
untertrieben: Kritiker werfen der UN vor, aus politischer Rücksichtnahme – | |
um überhaupt in Äthiopien arbeiten zu dürfen – die Lage in der Nordprovinz | |
[3][Tigray] zu beschönigen. Im März schätzten US-Hilfswerke die Zahl der | |
Menschen in Hungersnot auf 750.000. | |
Tigray befindet sich seit November 2020 im bewaffneten Aufstand gegen die | |
Zentralregierung und leidet unter einer Wirtschaftsblockade. Von Tigrays 7 | |
Millionen Einwohnern sind nach UN-Angaben 6,3 Millionen auf Hilfe | |
angewiesen. Die meisten sind auf sich allein gestellt. Die letzte | |
WFP-Verteilaktion Ende Mai versorgte laut dem jüngsten UN-Lagebericht | |
395.428 Menschen mit „Essenpaketen“ – pro Person etwas über 16 Kilo | |
Getreide, Hülsenfrüchte und Speiseöl. Nach UN-Standard soll das für einen | |
Monat reichen. In Tigray könnte es für viele die einzige Versorgung des | |
Jahres gewesen sein. Nur 2,2 Millionen Bedürftige wurden seit | |
Wiederaufnahme der humanitären Hilfe im Oktober 2021 wenigstens einmal | |
erreicht. Auch wenn Hilfsgüter Tigray erreichen, stecken sie lange in der | |
Hauptstadt Mekelle fest, mangels Benzin zum Weitertransport. Äthiopien | |
blockiert auch die Treibstofflieferungen. | |
Tigray zeigt: Hungerkrisen sind hausgemacht. 70 Prozent aller Menschen in | |
„Ernährungsunsicherheit“ leben in Konfliktgebieten. Nach Äthiopien folgen | |
in der UN-Liste aktueller Hungersnöte die chronischen Bürgerkriegsländer | |
Jemen (161.000 Betroffene), Südsudan (87.000), dann Somalia (81.000) und | |
schließlich Afghanistan (20.000). In Zeiten von Konflikten und | |
Bürgerkriegen können Bauern ihre Felder nicht bestellen, es gibt keine | |
Aussaat, dann keine Ernte, dann keine Nahrungsmittel auf den Märkten. Die | |
Menschen ziehen in die Städte oder in Lager, um zu überleben. Und wenn die | |
selbstversorgende Landwirtschaft einmal zusammengebrochen ist, ist es sehr | |
schwer, sie wiederaufzubauen. | |
Der Punkt, wo aus einer chronischen Konfliktsituation eine chronische | |
Hungerkrise wird, ist in Südsudan und der Zentralafrikanischen Republik | |
bereits überschritten: Hier herrscht flächendeckend Mangel, trotz immenser | |
brachliegender fruchtbarer Ackerflächen. Dieses Jahr könnte dieser Zustand | |
in Teilen der Sahelzone erreicht werden. In Teilen von Mali, Niger und | |
Burkina Faso sowie Nigerias ist der Großteil der ländlichen Bevölkerung auf | |
der Flucht vor Terrorgruppen, kriminellen Milizen und militärischen | |
Strafaktionen. | |
In Niger liegen die Ernten jetzt schon nach Angaben des Internationalen | |
Komitees vom Roten Kreuz um 40 Prozent unter dem Fünfjahresdurchschnitt, in | |
Mali um 15 und in Burkina Faso um 10 Prozent. Die Lebensmittelpreise in der | |
Region sind zugleich innerhalb von fünf Jahren um 20 bis 30 Prozent | |
gestiegen. | |
Solche kleinen Verschiebungen können für Menschen am Existenzminimum | |
tödlich sein, und auch für Regierungen. In Sudan waren steigende Brotpreise | |
Ende 2019 das Fanal zur Revolte gegen die Militärdiktatur, der | |
Volksaufstand gegen die Generäle dauert an. Heute liegt die Inflation bei | |
200 Prozent. Diese Woche warnte die UN, ein Drittel der Bevölkerung | |
[4][Sudans] – 15 Millionen Menschen – lebe in „Ernährungsunsicherheit“, | |
mehr denn je. In der Krisenregion Darfur sind es 90 Prozent. | |
Akut sorgen sich Helfer um Somalia, nach vier Missernten hintereinander | |
infolge von Dürre und Heuschreckenplagen. In Somalia hungern nach | |
UN-Angaben vom Juni 7,1 Millionen Menschen – fast die Hälfte der | |
Bevölkerung, 1 Million mehr als noch im März geschätzt. Als der neue | |
Präsident Hassan Sheikh Mohamud am 9. Juni in sein Amt eingeführt wurde, | |
appellierte er „an die Welt, unser Volk zu retten“. Diese Woche berichtet | |
Ärzte ohne Grenzen aus Somalia: „Einige Menschen erzählen uns, dass sie die | |
unmögliche Entscheidung treffen mussten, eines ihrer Kinder sterben zu | |
lassen, um die anderen zu retten.“ | |
Mehr Hunger – das müsste auch mehr Hungerhilfe bedeuten. Aber dieses Jahr | |
ist alles anders. Die Covid-19-Pandemie hat Lieferketten gestört und | |
Transporte weltweit verteuert. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine | |
setzt dieselbe Spirale in Gang wie in Hungergebieten: weniger Aussaat, | |
weniger Ernte, weniger Waren. Nur diesmal mit weltweiten Auswirkungen – aus | |
der Ukraine und Russland kommen 30 Prozent des Getreides im Welthandel. Die | |
globalen Getreidepreise sind zwischen Januar und April um 21 Prozent | |
gestiegen, die Ölpreise um 24,5 Prozent. | |
Für Afrika ist das dramatisch. Urbanisierung steigert Afrikas Abhängigkeit | |
von Getreideimporten: Die Stadtbevölkerung isst mehr verarbeitete | |
Importware, Geschäftsleute verdienen am besten durch Importgeschäfte, | |
lokale Bauern haben oft das Nachsehen. Afrikas Weizenimporte stiegen laut | |
Afrikanischer Union von 2007 bis 2019 von 29 auf 47 Millionen Tonnen. Vor | |
dem Krieg wurde bis 2025 eine weitere Zunahme auf 65 Millionen | |
prognostiziert – mit Russland und der Ukraine als Hauptlieferanten. | |
Was ist, wenn diese Hauptlieferanten ausfallen? In die aktuellen | |
Hungerprognosen für Afrika sind die Auswirkungen des Ukrainekriegs noch gar | |
nicht vollständig eingearbeitet. Der neue Frühwarnbericht hält einen | |
kriegsbedingten weiteren Anstieg der Zahl der Menschen in „Ernährungskrise“ | |
um 47 Millionen für möglich. | |
Diese Woche erklärte das WFP, es sei aus Kostengründen gezwungen, seine | |
Versorgung von 1,7 Millionen Hungernden im Südsudan komplett einzustellen, | |
nachdem die Essenspakete schon 2021 halbiert worden waren. 7,74 Millionen | |
Menschen – 60 Prozent der Bevölkerung – stehe ab Juli „schwerer akuter | |
Hunger“ bevor. Was das bedeute, wisse man: Familien verkaufen ihre Kinder. | |
Unmenschlichkeit oder Tod – vor dieser Wahl stehen die Menschen, wenn sie | |
keine Kraft mehr haben. | |
19 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.wfp.org/hunger-catastrophe | |
[2] https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/blog/hungersnot-ernaehrungskris… | |
[3] /Hunger-in-Nordaethiopien/!5743554 | |
[4] https://www.wfp.org/countries/Somalia?utm_source=google&utm_medium=cpc&… | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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