# taz.de -- Rad-Sternfahrt in Berlin: „Den Autos den Platz wegnehmen“ | |
> Am Sonntag werden Radfahrende für mehr Sicherheit auf der Straße | |
> demonstrieren. Die Zahl der Autos muss schnell sinken, sagt ADFC-Chef | |
> Frank Masurat. | |
Bild: Dafür wurden Autobahnen gebaut: Radler*innen bei der Sternfahrt | |
taz: Herr Masurat, am Sonntag findet die 46. [1][Sternfahrt] statt. Wie | |
lange will der ADFC diese Protesttour noch organisieren? | |
Frank Masurat: Aus politischer Sicht müssen wir das sicherlich noch | |
Jahrzehnte machen. Es geht ja darum, die Verkehrswende umzusetzen. | |
Die jährliche Sternfahrt mit ihren Zehntausenden Teilnehmer*innen ist | |
ja mehr als eine Demo, es ist längst eine Art [2][radpolitisches | |
Happening]. | |
Wir sprechen damit neue Zielgruppen an, die merken, wie entspannt, sicher | |
und schnell man auf dem Rad durch die Stadt fahren kann, wenn der | |
Kfz-Verkehr wegfällt und man nicht an jeder Ampel steht. Das motiviert die | |
Menschen, mehr Rad zu fahren. Zusätzlich haben wir eine starke politische | |
Botschaft: Denn vor dem Hintergrund der Klimakrise muss die | |
[3][Verkehrswende jetzt deutlich schneller umgesetzt] werden. | |
Das ist auch das Motto der Sternfahrt in diesem Jahr: „Verkehrswende jetzt | |
umsetzen!“ Was die angeht, hat der ADFC [4][eine sehr kritische Bilanz | |
gezogen nach den ersten fünf Jahren Rot-Rot-Grün]. Was ist da | |
schiefgelaufen? | |
Erst mal ist es gelungen, 2018 das Mobilitätsgesetz zu verabschieden – das | |
war ein Riesenerfolg. Doch auf der Straße ist dramatisch wenig passiert. | |
Oftmals handelt es sich auch noch um Stückwerk. | |
Ja, mal werden ein paar Hundert Meter sicherer dank eines frisch gebauten | |
Radwegs – und wir feiern auch jeden neuen Meter. Aber wir fordern Kilometer | |
statt Meter. | |
Woran liegt die Langsamkeit? | |
Um die im [5][Mobilitätsgesetz vorgeschriebenen Verbesserungen] – also | |
neue Radwege und -spuren – wirklich auf die Straße zu bekommen, hätten die | |
Strukturen und Prozesse in den Verwaltungen verbessert werden müssen. Da | |
ist viel zu wenig passiert, und es fehlte an Personal. | |
Und jetzt? | |
Inzwischen ist die Situation deutlich besser. Neben dem Mobilitätsgesetz | |
gibt es seit letztem Jahr den Radverkehrsplan: eine Rechtsverordnung, die | |
vorschreibt, wie die Stadt Radwege zu bauen hat, mit klaren Prioritäten auf | |
einem Vorrangnetz mit insgesamt 900 Kilometern. Diese Mindestvorgaben für | |
den Radverkehr müssen umgesetzt werden. Vor allem ist es wichtig, die | |
Radwege als Netz zu denken, nicht mehr jeden Radweg einzeln. | |
Wird die Umsetzung so besser klappen? | |
Das wird man sehen. Was wir vermissen, sind klare Verantwortlichkeiten, ein | |
Monitoring und ein Controlling. Das ist wichtig, damit die Senatorin oder | |
die Staatssekretärin sagen kann, wo wir stehen, wo es Abweichungen gibt und | |
was getan werden muss, um die Abweichung in den Griff zu bekommen. | |
Sie haben die Senatorin angesprochen. Fünf Jahre lang war es Regine | |
Günther, jetzt ist es Bettina Jarasch (beide Grüne). Merken Sie eine | |
Veränderung? | |
Wir haben sehr intensive Gespräche mit Regine Günther in den fünf Jahren | |
geführt – aber es hat nicht wirklich etwas bewegt. Mit [6][Bettina Jarasch] | |
haben wir noch kein intensives Gespräch gehabt. | |
Nachdem sie schon fast ein halbes Jahr im Amt ist? | |
Wir haben mehrfach um Termine gefragt, aber bis jetzt ist das noch nicht | |
zustande gekommen. Ich nehme an, dass Frau Jarasch sich supergut | |
vorbereitet auf unsere Fragen zum Thema Monitoring und Controlling – und | |
dass es deswegen etwas länger dauert. | |
Inzwischen laufen ja die Planungen für den Umbau mehrerer berüchtigter | |
Strecken, etwa [7][der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg.] Dort sollen | |
Radler*innen mehr Raum bekommen auf Kosten der Autos, aber auch auf | |
Kosten von Bussen und Tram. Und auch Fußgänger*innen kritisieren, dass | |
ihre Belange nicht genug berücksichtigt werden. Wird da der aktuelle | |
Konflikt nur verlagert? | |
Wir brauchen weniger Autos in der Stadt, denn im Verkehrsbereich ist der | |
Klimaschutz bisher auf der Strecke geblieben. Die Zahl der Autos nimmt | |
sogar weiterhin zu, sie werden größer und schwerer, nehmen immer mehr Platz | |
weg und sorgen für zwei Drittel der Emissionen im Verkehrssektor. Wir | |
müssen die Privilegierung des Autos und dessen Platzbedarf korrigieren. | |
Das beantwortet nicht die Frage. Manche sagen, dass die Radler*innen nun | |
die Privilegierten sind, auf Kosten des ÖPNV und der Fußgänger. | |
Nein. Wir als ADFC fordern ein strukturiertes Vorgehen; im Mobilitätsgesetz | |
und im Radverkehrsplan ist ein Vorrangnetz für den Radverkehr | |
festgeschrieben. Das gilt auch für den ÖPNV, und das kann man auch für den | |
Fußverkehr überlegen. Als Organisation für Radfahrer*innen verstehen | |
wir uns als Teil des Umweltverbunds. Es macht keinen Sinn, zwischen ÖPNV | |
und Radverkehr zu streiten, sondern wir müssen die Probleme gemeinsam | |
lösen. Und es muss immer damit enden, dass der Platz dem Kfz-Verkehr | |
weggenommen wird. | |
Das heißt, Sie unterstützen das [8][Volksbegehren Berlin autofrei], das den | |
weitgehenden Ausschluss von Autos aus der Innenstadt fordert? | |
Das war bisher eine total spannende Diskussion, wie wir eine autoarme Stadt | |
umsetzen können. Das brauchen wir nicht zuletzt, um die Verkehrssicherheit | |
zu erhöhen: Wir haben ein toxisches Verkehrssystem, wir töten regelmäßig | |
Menschen, darunter viele Radfahrende und ungeschützte Teilnehmer*innen. Sie | |
werden getötet mit Kfz. Weniger Kfz bedeuten also weniger Verkehrstote. | |
Aber noch mal konkret gefragt: Unterstützt der ADFC dieses Volksbegehren? | |
Die Grünen zum Beispiel tun das nicht. | |
Ja, das politische Ziel unterstützen wir. Es gibt bisher gar keine | |
offiziellen Unterstützer des Volksentscheids. | |
Und Sie würden auch Ihre Mitglieder dazu aufrufen, dafür zu unterschreiben? | |
Ich persönlich würde unterschreiben; ob wir alle Mitglieder dazu aufrufen, | |
kann ich jetzt nicht alleine entscheiden. Aber wir würden bei der | |
Organisation helfen, etwa Unterschriften sammeln. | |
Werfen wir einen Blick zurück auf die Pandemie. Für den Radverkehr hat die | |
sogar einige Vorteile gebracht, denn mit den [9][viel beachteten | |
Pop-Up-Bike-Lanes] wurden zahlreiche Radwege an gefährlichen Straßen | |
spontan eingerichtet und inzwischen verstetigt. Braucht es eine solche | |
Notlage, um eine Notlage auf der Straße zu beheben? | |
Ich würde das ein Stück weit relativieren. In der Coronazeit hat der | |
Fahrradverkehr ganz stark zugenommen. Aber es war so, dass da genau ein | |
Bezirk schnell reagiert hat – und seitdem ist nicht viel passiert. Im | |
Ergebnis geht es um 20 bis 30 Kilometer: Das ist marginal wenig im | |
Vergleich zu den 1.600 Kilometern Radwegen, die laut Mobilitätsgesetz an | |
den Hauptstraßen gebaut werden müssen. Wir bräuchten das Tempo zur Anfang | |
der Pandemie in jedem Bezirk die ganze Zeit. | |
Was lernen Sie daraus? | |
Das Pop up-Verfahren ist super. Und solange wir diese dysfunktionale | |
Verwaltung haben, ist es das Mittel der Wahl. Wir können mit temporären | |
Maßnahmen schnell Veränderungen im Straßenraum ausprobieren, dazulernen, | |
auch mal Fehler machen. Und erst dann kommen die Bagger. Dieses Verfahren | |
kann man auch für andere Infrastruktur anwenden, zum Beispiel Busspuren. | |
Glauben Sie nicht, dass gegen diese Methode geklagt würde mit dem Argument: | |
Trial and Error im Straßenverkehr – das geht nicht? | |
Auch gegen die Pop-Up-Radwege haben Vertreter einer rechtsradikalen Partei | |
geklagt – und am Ende des Tages zurückgezogen wegen Aussichtslosigkeit. | |
Jede Veränderung im Straßenraum wird ganz offensichtlich von interessierten | |
Kreisen verklagt. Aber ich bleibe dabei: Wir müssen Fehler machen, und wir | |
müssen Fehler schnell machen, denn je eher wir einen Fehler machen und das | |
erkennen und korrigieren, desto besser werden wir. Dafür braucht es aber | |
auch eine andere Fehlertoleranz in der Stadt – auch beim ADFC und den | |
Medien. Wenn wir diese Toleranz hätten, würde sich auch die Verwaltung viel | |
mehr trauen. Derzeit herrscht dort der Geist, ja keine Pannen zu | |
produzieren. Und das hemmt die Arbeit und den Fortschritt. | |
Apropos trauen: Seit gut einer Woche [10][gibt es das 9-Euro-Ticket.] An | |
Pfingsten hat sich gezeigt: Die Mitnahme von Fahrrädern den Regionalbahnen | |
von und nach Berlin war oft wegen Überfüllung unmöglich. Diese mangelnden | |
Kapazitäten werden seit Jahren kritisiert, aber es ändert sich auch da | |
nichts. | |
Das 9-Euro-Ticket ist ein super Erfolg, weil es zeigt, dass die Nachfrage | |
da ist. Aber die Kapazität ist katastrophal schlecht. Wir müssen den ÖPNV | |
ausbauen. | |
Aber warum passierte das nicht: Warum werden nicht Waggons angeschafft, die | |
flexibler sind und mehr Raum für Räder oder auch Rollstuhlfahrer*innen | |
haben – das wird doch seit 20 Jahren gefordert? Denn wenn man nicht weiß, | |
ob man abends wieder zurück nach Berlin kommt, fährt doch niemand mit Bahn | |
und Rad raus. | |
Absolut richtig. Aber das hat nicht unbedingt nur mit dem Neun-Euro-Ticket | |
zu tun. Das ist ein Versäumnis über Jahrzehnte. Die Bahn wurde | |
runtergespart. Und wenn ich die Züge verlängern will mit weiteren Waggons – | |
was der einfachste Weg ist, um die Kapazität zu erhöhen –, dann muss man | |
auch Bahnsteige auf der ganzen Strecke haben, die entsprechend lang sind. | |
Und das sind nicht alle. Dabei bringen die Touristen ja auch Umsatz in die | |
jeweilige Region und auch Umsatz für die Deutsche Bahn, weil die | |
Fahrradmitnahme ja extra kostet. | |
Kommen wir noch mal zur Sternfahrt zurück. Mit wie vielen Teilnehmenden | |
rechnen Sie am Sonntag? | |
Wir erwarten gutes Wetter, wir haben breit mobilisiert. Ich würde mal | |
sagen, eine mittlere fünfstellige Zahl. | |
Jedes Jahr gibt es die detaillierten Pläne mit Abfahrtszeiten, die | |
allerdings selten stimmen. Warum eigentlich? | |
Wir haben 80 Startpunkte, die Verzögerungen gibt es im Wesentlichen an den | |
Autobahnauffahrten. Wie stark, das hängt von der Polizei ab. Manchmal | |
sperrte sie die Autobahn erst, wenn alle Zubringergruppen da waren. Das | |
führte bei denen, die zuerst da waren, zu Verzögerungen. Aber in den | |
letzten Jahren ist es besser geworden. Denn wir müssen aufpassen: Wenn da | |
Tausende stundenlang in der Sonne warten, kippen uns die Leute um. | |
Auch durch den Britzer Tunnel darf nicht mehr gefahren werden. | |
Der Tunnel wurde aus Sicherheitsgründen – so die Begründung – nicht mehr | |
für die Sternfahrt und andere Demos freigegeben. Dafür fahren wir in der | |
Summe ein längeres Stück auf der Autobahn von der Oberlandstraße bis zum | |
Dreieck Funkturm. | |
11 Jun 2022 | |
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