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# taz.de -- Öffentliche Debatten seit Corona: Macht durch Empörung
> Erst Corona, dann Ukrainekrieg: Die Diskurs-Nerven liegen blank. Auf der
> Strecke bleiben die wichtigen Fragen.
Bild: Gekommen, um sich zu beschw… äh, zu zwitschern
Manchmal haben die Leute das Bedürfnis, „unpopular opinions“ rauszuhauen.
Das steht immer wieder bei Twitter unter Takes, die ihre Verfasser wohl für
das Gegenteil der Mainstream-Meinung halten, die sie sich
zusammenhalluziniert haben. Ernten sie viele Likes dafür, wird das nicht
als Widerspruch gesehen.
Nach zwei Jahren Pandemie und einigen Monaten, die ich, wie alle, völlig
unvorhersehbar im Lockdown verbracht habe (ich weiß, man darf nicht
Lockdown sagen, man muss sagen Ausgehbeschränkungen oder teilweiser
Freiheitsentzug sagen und vor allem sagen: anderswo war es viel schlimmer,
also viel mehr Lockdown), ist die Empörungswelt der sozialen Medien in
meinem Leben unerwartet wichtig geworden.
Während alle Kulturhäuser zu hatten, saßen alle vor ihren Geräten und
stießen irgendetwas ab. Von Zwitschern kann keine Rede sein. Ich habe mich
also daran gewöhnt, dass man nichts, wirklich nichts sagen kann, ohne
Empörung zu ernten von irgendwoher, und dass es einen Punkt gibt, ab dem
Twitter seine Nutzer zu Zombies macht.
## Alle sind erschöpft
Wie fast alle bin auch ich erschöpft von den vergangenen zwei Jahren. Von
der Erfahrung einer Pandemie, von der Erschütterung, die sie für das
Grundvertrauen bedeutet. Ich habe nicht erwartet, je in eine Situation zu
geraten, in der demokratische Staaten meinen, so massiv [1][in den Alltag
ihrer Bürger eingreifen zu müssen], in der die alltäglichsten Handlungen
[2][plötzlich lebensbedrohlich sein können], so sehr, dass fast jegliches
Zusammenleben zum Stillstand kommt.
Ich stehe, wie viele, mit einem letzten Funken Empathie in dieser
Erschöpfung, hilflos vor einem Krieg, bei dem es mir so vorkommt, als ob
das einzig Richtige wäre, die Angegriffenen zu schützen – aber selbst das
ist keine Eindeutigkeit in diesen Zeiten. Im Hintergrund das ständige
Rauschen der Klimakatastrophe; man hat sich daran gewöhnt, das Reden über
das Klima, das alles läuft so mit, als hätte man ein altes Küchenradio
eingeschaltet. Und unter der Frequenz ist ein permanentes Rauschen. Es
stört, aber die Welt ist wohl nicht ohne zu haben, und niemand tut etwas
dagegen, man hört einfach mit Störton weiter.
Aus dieser Erschöpfung finden viele nur noch über eine Empörungsdynamik
heraus. Es scheint ein leichtes Mittel zu sein gegen die empfundene
Machtlosigkeit über den Lauf der Dinge. Ich habe inzwischen den Eindruck,
es ist das Letzte, was viele meinen überhaupt noch tun können: „Nein, so
nicht!“ schreien. Das digitale Ich kann das notfalls nebenher erledigen.
Man muss also seinen Arsch nicht einmal vom Sofa kriegen oder kann nebenher
seinem Job nachgehen, mit dem man die überteuerten Mieten bezahlen muss.
Meine Hilflosigkeit über den Krieg in der Ukraine und seinen bisherigen
Verlauf sollte ich nun, wenn ich der digitalen Masse folge, durch Empörung
über Leute wie Ulrike Guérot sublimieren. Es reicht nicht, dass ich sage,
die Frau redet einen Mist. Nein, man muss dann schon die ganz große Oper
spielen: Warum sitzt die bei Lanz? (Ulrike Guérot [3][plädierte für einen
Waffenstillstand und Verhandlungen mit Russland], d. Red.) Was qualifiziert
sie? Was macht die an der Uni Bonn? Während man sich so von Sekunde zu
Sekunde hochempört, weiß jeder, sie wird mit ihren Thesen mehr und mehr
Menschen erreichen.
## Leichtes Knöpfedrücken
Warum sollte es nicht legitim sein, eine empathielose, wenig fundierte
Meinung in einer Talkshow abzubilden – zumal solche Meinungen auf der
anderen Seite des Fernsehers zuhauf vertreten sein werden? Warum dieses
permanente: Die darf nicht mehr öffentlich dies und das tun? Reicht es
nicht, dass sie bereit ist, sich selbst bloßzustellen? Vertraut man so
wenig in die Gegenrede der anderen, die Positionen vertreten, die man
selbst für begründet hält? Warum gönnt man gerade jenen Pundits, die es
sich so leicht machen mit dem Knöpfedrücken, ständig die Märtyrerrolle?
Wir wissen alle, dass sich Nutzer im Netz ihre Inhalte zusammensuchen, wenn
sie die Meinungen, die sie hören möchten, in den öffentlich-rechtlichen
Kanälen nicht wiederfinden. Sie würden sich eben im Netz Kanäle suchen, auf
denen Frau Guérot redet, ihr aber niemand mehr widerspricht. Warum nicht
eine Runde Mitleid spenden, dass jemand sich bloßstellt, wie kurzsichtig er
die Lage einschätzt, statt ihm so viel Macht durch Empörung zuzugestehen?
Wann fangen wir damit an, uns zu fragen, in welcher Verfassung sich die
meisten nach zwei Jahren Corona befinden? Die Pandemie – neben der
Tatsache, dass sie noch nicht vorbei ist – war eine Erfahrung, die für
viele das Grundvertrauen in das So-Sein der Welt erschüttert hat.
Mit einem Schlag war alles außerhalb der eigenen vier Wände eine mögliche
Bedrohung. Der Staat musste plötzlich massiv eingreifen, aber wie weit darf
der Staat gehen, wenn er aus guten Gründen handelt? Bei allem Reden über
Verschwörungsmythen fehlten mir die Analysen, wie man die Verunsicherungen
der vielen auffangen will, wenn man noch nicht einmal für jene, die
psychisch erkrankt sind, genug Therapieplätze hat.
## Gute und schlechte Experten
Wir haben zwei Jahre lang in Talkshows fast nur Experten gehört,
Wissenschaftler, die etwas über die Pandemie und ihren möglichen Verlauf
sagen konnten. In welcher geistigen und, ja, seelischen Verfassung sich
viele Bürger befinden, das war und ist selten Thema. Wie man den Kopf klärt
bei all den Belastungen. Und wie man mit den Zweifeln lebt, dass auch
Wissenschaftler irren, obwohl sie, während sie Vorschläge machen, sehr
überzeugt von der Richtigkeit ihrer Ansätze sind.
Es gab mal eine Zeit, da kritisierten viele Linke die Tendenz zur
Expertokratie. Jetzt tun viele so, als ließen sich die Probleme dieser Welt
nur lösen, indem wir die guten Experten reden lassen und zwar
ausschließlich sie. Die schlechten Experten werden weggeschrien. Und alle,
die keine Experten für irgendetwas sind, kommen gar nicht mehr zum Zug.
8 Jun 2022
## LINKS
[1] /Boellerverbot-zu-Silvester/!5822021
[2] /Ende-fast-aller-Corona-Massnahmen/!5842993
[3] https://www.youtube.com/watch?v=jk-boUZmh0Y
## AUTOREN
Jagoda Marinić
## TAGS
Schlagloch
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Schwerpunkt Klimawandel
Frank-Walter Steinmeier
Kampagne
fossile Energien
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