# taz.de -- Sprechen über die Nazi-Vergangenheit: Die dritte Generation | |
> Wie hängt das Erstarken der rechten Szene mit der NS-Vergangenheit und | |
> deren Aufarbeitung zusammen? Dieser Frage geht die „Vierte Welt“ in | |
> Berlin nach. | |
Bild: Aus der Performance „Böse Déjà-vus“ von Elisa Müller | |
„Sind Sie Deutsche?“, fragt die Person mit gruseligem Clownsgesicht auf der | |
Bühne. Zaghaftes Nicken im Publikum. Bei der prompt und freudig | |
ausgerufenen Antwort „Das finde ich guuuut“ macht sich instinktiv Unbehagen | |
breit. Das will die Performance „Böse Déjà-vus“ in der Regie von Elisa | |
Müller an diesem Abend in Berlin auch erreichen. Mit wenig Sätzen und viel | |
Metaphorik zeigt die Vorstellung: Über die Nazi-Vergangenheit, über | |
Täter*innenschaft im privaten Umfeld zu sprechen ist schwer. Also wird | |
von Generation zu Generation lieber geschwiegen. [1][Oder eine geschönte | |
Geschichte erzählt.] Was macht das mit uns? | |
In den künstlerischen [2][Produktionsräumen der „Vierten Welt“], die sich | |
direkt am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg befinden, werden seit dem 28. | |
April bis zum 15. Mai [3][rechte Kontinuitäten in Deutschland] | |
thematisiert. Bei der an drei Wochenenden stattfindenden | |
Veranstaltungsreihe „Trauma – rechte Zukunft. Deutsche Geschichte(n)“ | |
werden die häufigen Täter*innen-Opfer-Verdrehungen deutlich gemacht. Das | |
„3G“ in der Veranstaltungsbeschreibung weist dabei nicht auf Pandemieregeln | |
hin, sondern meint die Positionen der dritten Generation nach dem Zweiten | |
Weltkrieg und der Shoah. | |
In Gesprächsrunden und Workshops sind Besucher*innen aufgefordert, sich | |
mit der eigenen Nazi-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Am ersten | |
Veranstaltungswochenende sprachen vor allem Menschen, die von Rassismus und | |
Diskriminierung betroffen sind. Das zweite Wochenende legte den Fokus auf | |
die Täter*innen. Etwa gab der Historiker Johannes Spohr in einem Workshop | |
Einblicke, wie man [4][die eigene familiäre Geschichte im | |
Nationalsozialismus recherchieren] kann. | |
Dass es da viel Scham und ein internalisiertes Sprechtabu gibt, zeigte | |
unter anderem eine Gesprächsrunde in der „Vierten Welt“ am vergangen | |
Freitag, dem 6. Mai. Trotz des Veranstaltungstitels „Menschen mit | |
Nazi-Hintergrund“ erzählten die eingeladenen Gäste nicht viel Persönliches. | |
Dafür zeigten die Sozialpsychologin Alina Brehm, der Historiker Dominik | |
Rigoll, [5][die Journalistin Sonja Smolenski] und der Architekt Philipp | |
Rüge auf, in wie vielen Bereichen es faschistische Kontinuitäten in | |
Deutschland gegeben hat und gibt. Da werden Spendengelder von einem | |
Antisemiten akzeptiert, wie es der Fall von [6][Ehrhardt Bödecker und dem | |
Humboldt Forum] zeigte. Dort finanzieren sich Unternehmen mit Geldern aus | |
der Shoah. Mit Letzterem beschäftigt sich Sonja Smolenski in ihrem | |
Recherchenetzwerk „[7][Boykott deutsche Leidkultur]“, sie erreicht mit | |
ihren Posts auf Instagram auch ein jüngeres Publikum. | |
Der Begriff „Menschen mit Nazihintergrund“ [8][polarisierte 2021], nachdem | |
ihn die Künstler*innen Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah in | |
einer Diskussion verwendeten. Die sprachliche Umkehr von „Menschen mit | |
Migrationshintergrund“ wird auch in der „Vierten Welt“ diskutiert. Ist der | |
Begriff zu verallgemeinernd, genau richtig verallgemeinernd oder doch zu | |
„ichbezogen“, weil sich Nachkommen von Täter*innen so mit dem eigenen | |
„Nazi-Opa“ wieder in den Fokus rücken können? | |
Einig waren sich alle Gesprächsteilnehmer*innen, dass über die rechten | |
Kontinuitäten in Deutschland trotz Erinnerungskultur viel zu wenig | |
gesprochen wird. „Deutschland hat es geschafft zu suggerieren, dass man | |
eine Wahl hat, ob man sich erinnern möchte. Als Nachkomme von Überlebenden | |
stellt sich diese Frage aber nicht“, sagt auch die Sozialpsychologin Alina | |
Brehm. | |
Für die Theaterwissenschaftlerin Elisa Müller, die gemeinsam mit Annett | |
Hardegen die Veranstaltungsreihe konzipierte, wurde das Thema | |
Erinnerungskultur noch dringlicher mit dem Einzug der AfD in die | |
Parlamente. „Die Legitimation, mit der die AfD in Gremien und in | |
Parlamenten sitzt und dass es da so wenig Widerstand gibt, das hat mich | |
geschockt und mir Angst gemacht.“ Müller habe sich dann gefragt, was die | |
vielfältigen psychologischen Abwehrprozesse, die es nach 1945 gab, mit den | |
Menschen gemacht haben: „Wenn alle schweigen, täuschen und in Schuld | |
verstrickt sind: Was ist das für eine Gesellschaft? Was bringt die für | |
Kinder hervor?“ | |
Wie so häufig bleibt bei den Veranstaltungen das Gefühl, dass die | |
angesprochenen Recherchen zu rechten Kontinuitäten zu groß und | |
vielschichtig sind, um sie an einem Abend in einem künstlerischen oder in | |
einem Gesprächsformat fassen zu können. | |
Aber Denkanstöße kann man immerhin geben, und das tun die Köpfe hinter der | |
„Vierten Welt“. Mit einer sprachlich lockeren und gestalterisch einladenden | |
Herangehensweise wird mitten im Kreuzberger Trubel ein Raum geschaffen, wo | |
es nicht nur die Ankündigung gibt, über etwas zu sprechen, sondern das auch | |
tatsächlich passiert. | |
Trauma – rechte Zukunft | deutsche Geschichte(n), wieder am 12.-15. Mai, in | |
der „Vierten Welt“, Adalbertstraße 96, 10999 Berlin, mehr Infos unter: | |
https://viertewelt.de | |
10 May 2022 | |
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[4] /Familiaere-Aufarbeitung/!5030631 | |
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[7] https://www.instagram.com/boycott_dl/?hl=de | |
[8] /Social-Media-und-NS-Familiengeschichte/!5747511 | |
## AUTOREN | |
Linda Gerner | |
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