# taz.de -- Dokudrama über Heinrich Vogeler: Der verträumte Stalinist | |
> Marie Noëlles Film „Heinrich Vogeler – Aus dem Leben eines Träumers“ | |
> erzählt von der Wandlung des Jugendstilmalers zum Sowjetkünstler. | |
Bild: Florian Lukas als Heinrich Vogeler und Johann von Bülow als dessen Freun… | |
BREMEN taz | Er war ein Star der [1][Worpsweder Künstlerkolonie], der | |
Traumprinz des Jugendstils. Oder eben ein „kleinbürgerlicher Romantiker“. | |
So nennt sich Heinrich Vogeler selbst in dem Film „Heinrich Vogeler – aus | |
dem Leben eines Träumers“. Zwar hat ihm Regisseurin Marie Noëlle diese | |
Worte in den Mund gelegt, aber die den gesamten Film durchziehenden | |
eingesprochenen Erinnerungen basieren auf verschiedenen, nicht beendeten | |
Selbstbiografien und Briefen des Künstlers. | |
Noëlle legt hier gleich in den ersten Minuten ihres Films einen Keim, der | |
die Unruhe spürbar werden lässt, die Heinrich Vogeler sein Leben lang | |
anzutreiben scheint. Dabei schafft er sich in dem kleinen Dorf | |
[2][Worpswede] bei Bremen in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts ein | |
Utopia der Künste. | |
Alles, was er anfasst, wird durch Schönheit geadelt. Seine gemalten | |
Idyllen, die (jugend-)stilbildenden Grafiken, der Barkenhoff, der nach | |
seinen Entwürfen umgebaut wurde. Mit der Dorfschönheit Martha führt er ein | |
glückliches Familienleben, mit Rainer Maria Rilke hat er einen Freund, der | |
ihn intellektuell und künstlerisch herausfordert – mit Ludwig Roselius | |
schließlich einen großzügigen Mäzen. | |
Und der Film feiert diesen frühen Höhepunkt von Vogelers Karriere. Marie | |
Noëlle hat an den Originalschauplätzen gedreht und lässt Florian Lukas als | |
Vogeler sowie Anna-Maria Mühe als seine Frau Martha romantisch durch den | |
Regen in den Wiesen laufen. Er kniet als mittelalterlicher Ritter | |
kostümiert vor ihr nieder. Sie schaut so glücklich versonnen wie auf seinen | |
Bildern, für die sie sein Lieblingsmodell war. | |
## Die Werke stehen für sich | |
Von den Spielszenen wird immer wieder zu Vogelers Gemälden, Zeichnungen und | |
Grafiken geschnitten, und Marie Noëlle ist dabei so klug, diese Werke für | |
sich stehen zu lassen und sie nicht, wie so oft in Malerporträts, mit der | |
eigenen Kamera nachzubauen. | |
Man sieht auch nicht den Künstler mit dem Pinsel in der Hand und im | |
Gegenschnitt dann das gerade fertiggestellte, möglichst berühmte Werk. Am | |
Illusionskino ist Noëlle nicht interessiert. Deshalb ist ihr Film auf einer | |
ganz anderen Ebene angesiedelt als der ebenfalls in Worpswede gedrehte | |
[3][Spielfilm „Paula“] über Paula Modersohn-Becker von Christian Schwochow | |
aus dem Jahr 2016. | |
Hier verkörpern zwar auch Schauspieler*innen die historischen | |
Gestalten, und Noëlle steckt sie auch in die passenden Kostüme, aber sie | |
führt sie dadurch ein, dass sie sie mit lebensgroßen Papierdrucken von | |
historischen Originalfotos ihrer Figuren kämpfen lässt. Diese | |
„Starschnitte“ müssen sie zerreißen, durchstechen oder zerknüllen, um ih… | |
Platz einzunehmen. | |
Auch sonst spielt Noëlle gern mit den Konventionen der historischen | |
Künstler*innenbiografie. So lässt sie ihre Darsteller*innen in | |
historischen Kostümen an geparkten Motorrädern vorbei durch das Paris von | |
heute laufen, und die zeitgenössische französische Künstlerin Sophie | |
Sainrapt unterhält sich in ihrem Atelier mit Auguste Rodin, der von Samuel | |
Finzi mit riesigem, angeklebtem und sicher historisch korrektem Bart | |
gespielt wird. | |
Nein, Marie Noëlle hat keinen Spielfilm, sondern ein Dokudrama gedreht. | |
Dieses Genre setzte sich im deutschen Fernsehen und Kino durch die Arbeiten | |
von Heinrich Breloer durch („Das Beil von Wandsbeck“, „Wehner – die | |
unerzählte Geschichte“, „Die Manns – ein Jahrhundertroman). Dessen Einfl… | |
ist deutlich in „Heinrich Vogeler“ spürbar. Die Spielszenen wirken immer | |
ein wenig artifiziell und die Dialoge bestehen eher aus Aussprüchen, die | |
Informationen vermitteln sollen, statt dass mit ihnen eine glaubwürdige | |
Gesprächssituation geschaffen würde. | |
## Traumatisierende Kriegserfahrungen | |
Außerdem wird viel mit Archivmaterial gearbeitet und der Film ist gespickt | |
mit Sequenzen aus Interviews, die mit Zeitzeug*innen oder | |
Spezialist*innen geführt wurden. So hat zum Beispiel der Autor Klaus | |
Modick mit [4][„Konzert ohne Dichter“], einen Besteller über Vogeler und | |
Rilke geschrieben, und im Film kommt er nun so oft zu Wort, dass er fast | |
wie ein heimlicher zweiter Erzähler wirkt. Außer ihm werden gleich zwei | |
Urenkelinnen von Vogeler, die Leiterin des Barkenhoffs, eine Kuratorin der | |
Bremer Kunsthalle und viele andere Vogelerkenner*innen befragt. | |
Es gibt auch gelungene Stimmungsbilder wie jene Einstellung, in der | |
Anna-Maria Mühe als Martha Vogeler im nächtlichen Worpswede von Vogelers | |
Bildern heimgesucht wird. Sogar Kaiser Wilhelm II. hat einen Kurzauftritt, | |
wenn er, gespielt von Helge Tramsen, trotzig auf einen offenen Brief | |
reagiert, in dem Vogeler ihn 1917 dazu auffordert, den Ersten Weltkrieg zu | |
beenden. Nach den traumatischen Kriegserfahrungen wird Vogeler immer mehr | |
zum linken, schließlich kommunistischen Künstler. | |
Den Barkenhoff verschenkt er an die „Rote Hilfe“, die ihn in ein Kinderheim | |
umfunktioniert. Und mit seinem Bewusstsein ändert sich seine Kunst. Als er | |
1931 in die Sowjetunion emigriert, malt er dort sogenannte Komplexbilder, | |
die an die Montagetechniken der Futuristen oder des Fotografen John | |
Heartfield erinnern. Und 1936 arbeitet er als Bühnenbildner an dem Film | |
„Kämpfer“ von Gustav von Wagenheim mit. | |
In diesem Teil des Films macht Marie Noëlle durch eine beeindruckende | |
Spielszene spürbar, unter welchem Druck die Exilanten in der Sowjetunion in | |
den Zeiten von Stalins Säuberungen standen. Nach dem Überfall der Deutschen | |
auf Russland wurde Vogeler zwangsweise nach Kasachstan umgesiedelt. Dort | |
verelendete er so schnell, dass er 1942 an körperlicher Schwäche starb. | |
Marie Noëlle verklärt den Tod von Heinrich Vogeler mit dessen symbolischem | |
Gang von der Dunkelheit ins Licht, und auch die Bilder aus glücklichen | |
Zeiten, die an den Augen des Sterbenden vorbeiziehen, fehlen nicht. Dieses | |
konventionelle Ende enttäuscht ein wenig, aber von solchen kleinen | |
Schwächen abgesehen, ist ihr ein kluger, komplexer und künstlerisch | |
inspirierter Film gelungen. Er wird dem Menschen Heinrich Vogeler gerecht – | |
und auch seiner Kunst. | |
13 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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