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# taz.de -- Alternative Shoppingfreuden: Sellerie sind die neuen Schuhe
> Shopping macht Spaß, ist aber moralisch ein Problem. Doch wer sich selbst
> überlistet, findet sein Glück direkt um die Ecke – im Supermarkt.
Bild: Alles so schön grün hier!
Hinter jeder Ecke lauert Werbung. Ob Shampoo mit Hanfgeruch, eine
Kreuzfahrtreise durch die Ostsee, türkisfarbene Socken mit
Bananenschalenmuster oder Muppets, die Second-Hand-Kleidung auf einem
Laufsteg tragen – wir sollen konsumieren und uns dabei glücklich fühlen.
Selbst Monogamie ist käuflich, jedenfalls kann man es versuchen, indem man
das Premiumabo bei Parship abschließt.
Gleichzeitig ist uns bewusst, dass Konsum nicht die Lösung ist. Sondern
vielmehr Probleme schafft. Sei es die Zerstörung der Ökosysteme durch Berge
an Müll, Ausstoß von schädlichen Gasen und Chemikalien. Oder die Ausbeutung
von Arbeitskräften sowie die Gefährdung ihrer Gesundheit. Ob Diamant
[1][oder iPhone] – an beidem klebt vermutlich Blut. Weil das Blut aber
vorher sorgfältig abgewischt wurde, sehen wir Konsument:innen nur noch
das glänzende Endprodukt.
Dabei sind sich Wissenschaftler:innen noch nicht mal einig, welche
Substanzen genau beim Konsum ausgeschüttet werden. Der Neurologe Christian
Elger erklärt gegenüber der taz, dass eine Untersuchung dieser Art
schwierig durchzuführen ist, da es stets einen Vergleich benötigt. „Konsum
an sich könnte man nur gegen Nicht-Konsum setzen, das ist experimentell
schwer umsetzbar“, erklärt er.
Ein paar Dinge seien dennoch klar: „Wenn ich ein Brot kaufe, weil ich etwas
zu essen haben muss, ist das was völlig anderes, als wenn ich mir die
dritte Hose kaufe“, sagt der Wissenschaftler, und: „Jeder Konsum, der über
das Notwendige hinausgeht, unterliegt Auswahlkriterien, die individuell
sind. Er befriedigt das Belohnungssystem des Menschen.“
## Wenn Verzicht doch nur Spaß machen würde
Einfacher ausgedrückt: Geld ausgeben macht Spaß – das Gefühl, eine neue
Einkaufstüte mit frisch konsumierten Waren entgegenzunehmen, und sei es nur
Billigschmuck, beflügelt. Und dieser Spaßfaktor lässt den ausbeuterischen
Markt boomen. Gleichzeitig möchte man natürlich für so wenig Leid wie
möglich verantwortlich sein. Und dieser Dualismus macht das Leben
kompliziert – meines jedenfalls. Ich möchte nicht mit jedem Schritt auf der
Shoppingmeile eine graue Wolke namens Scham hinter mir herziehen.
Die optimale Lösung wäre Verzicht. Also der Versuch, den Konsumdrang so
lange zu unterdrücken, bis er irgendwann hoffentlich von selbst
verschwindet. Die Frage ist nur, ob das so einfach umsetzbar ist. Sollte
Begierde derart einfach aus dem Leben zu entfernen sein, würden auf
deutschen Straßen nicht so viele Zigarettenstummel liegen.
Eine andere Option, zu der ich nun gekommen bin, ist, das Objekt der
Begierde zu wechseln. Weg von Schmuck, Schickem und Schuhen hin zum –
Supermarkt. Denn ich bin nicht fähig, meinen eigenen Fisch zu angeln oder
auf meinem nicht existierenden Balkon Gemüse anzubauen. Vor dem
Lebensmittelkonsum gibt es für mich kein Entkommen. Warum dann nicht gleich
die Pflicht mit Vergnügen verbinden?
## Ruhe und Freude spät Abends im Aldi
Nehme ich viel Zeit und Ruhe mit, hat der Gang nach Feierabend zum nächsten
Rewe oder Aldi etwas höchst Entspannendes. Bereits im Eingangsbereich
springen mir farbenprächtiges Obst und Gemüse entgegen.
Zusätzlich ist so ein Supermarkt ordentlich hell beleuchtet – manche sagen
vielleicht grell, aber über Geschmack lässt sich nicht streiten, und ich
werde einen sauber erscheinenden, bis zum hintersten Regal illuminierten
Laden immer einem dunklen, schmuddeligen vorziehen. Denn die Lichter
bereiten mir Freude. Sie sind der Scheinwerfer des Frischesortiments. Hier
wird jede Himbeere und jeder Maiskolben auf den Präsentierteller gelegt.
Allein die Optik ist ein Genuss.
In einem durchschnittlichen deutschen Supermarkt kann ich endlos Zeit
verbringen. Nicht, weil ich mir vorab keine Einkaufsliste geschrieben habe
und ständig wegen Vergessenem umherschwirre. Sondern weil die
Produktauswahl so breit ist, dass ich in meine Bedürfnisse reinhorchen muss
– oder darf. Dann stehe ich minutenlang vor dem Früchteregal und überlege,
ob ich lieber Pomelo mit Kokosnussmilch oder Birne mit Vanilleeis essen
will.
## Auf das Bauchgefühl hören
Möchte ich mir zur Belohnung der Woche etwas gönnen, gehe ich auch mal in
einem edleren Laden zur Käsetheke. Dort koste ich mich durch die
Probierstückchen und plaudere mit der Käseverkäuferin über meine
Bedürfnisse – danach trifft sie die Auswahl für mich. Es läuft immer auf
einen Hartkäse hinaus, vielleicht ein kräftiger Greyerzer oder ein würziger
Parmesan.
Ähnlich viel Zeit verbringe ich vor dem langen Regal mit den unzähligen
Teesorten. Während ich zur Weihnachtszeit ohne großes Zögern direkt zum
Früchtetee mit Spekulatiusgeschmack oder Zimt-Kurkuma greife, bin ich im
Frühling oft überwältigt vom Sortiment. Will ich lieber Ingwer-Orange oder
Chili mit Süßholz? Es ist fast so wie mit Sommerkleidern: Am liebsten will
ich einfach alles!
Dabei ist die Lebensmittelbranche natürlich längst nicht von Konsum- und
Kapitalismuskritik befreit. Da ist die Verschwendung von Lebensmitteln. Gut
wäre es, würde die Branche Maßnahmen ergreifen, um [2][den Essenabfall bei
Produktion und Verarbeitung] runterzufahren – allerdings [3][entsteht der
Großteil der Lebensmittelabfälle tatsächlich in privaten Haushalten].
Bedächtig und bewusst einkaufen hilft also.
## Lieber GEPA als Ferrero
Das gilt auch sonst. Es fängt damit an, sich klarzumachen, welche Firmen
unterstützenswert sind – oder eben auch nicht. So sehr die Kinder auch
danach schreien, sollte man auf dem Schirm haben, dass Nestlé-Schokoriegel
nicht dafür berühmt sind, für den Erhalt des Planeten zu sorgen. Vielleicht
verzichtet man auch lieber auf die Avocado, um den weltweiten
Wasserverbrauch zu dämmen. Und greift zum Fairtrade-Kaffee, um nicht den
Billiglohn der Plantagenarbeit zu fördern.
All diese Überlegungen kann man ja aber in die von mir beschriebene
Supermarkt-Shopping-Surrogat-Experience mit einfließen lassen. Und schon
bleibt das schlechte Gewissen, das man anderswo hat, irgendwie weg, wenn
man mit drei vollen Einkaufstüten das Geschäft verlässt. Weil man eben
essen muss. Weil es nicht anders geht. Jedenfalls noch nicht.
Und solange das so bleibt, tobe ich mich nach Feierabend gerne in meinem
Lieblings-Rewe aus. Mit Musik auf den Ohren hüpfe ich durch die Regale,
freue mich über die neuste Sorte Hafermilch oder überlege, welche Nudeln
ich zum Abendessen verkochen will. Und dann gibt es noch die kleinen
Bonus-Lebensfreuden, die ein Supermarkt so bieten kann: ein Strauß Blumen
an der Kasse oder die Schätze der Süßwarenabteilung, beides saisonal immer
wieder anders. Wer zusätzlich noch in den Spaß der Kindheit zurückversetzt
werden will, ist an der Selbstbedienungskasse mit einem Handscanner gut
aufgehoben.
30 Apr 2022
## LINKS
[1] /Aus-Le-Monde-diplomatique/!5285757
[2] /Lebensmittelrettung-bei-der-Produktion/!5766302
[3] https://www.bmel.de/DE/themen/ernaehrung/lebensmittelverschwendung/studie-l…
## AUTOREN
Shoko Bethke
## TAGS
Genuss
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Klimawandel
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